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Das Echo

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Auf beiden Seiten der Simmerin-ger Hauptstraße bis zum Friedhofstor standen in langgezogener Reihe die Wiener, Frauen und Männer, Schulkinder, zitternd vor Kälte, kleinere Gruppen von Arbeitern, an ihrer Arbeitskleidung erkennbar, und schauten auf die schier endlose Autokolonne, die, dem Wagen folgend, hinter dessen Glaswänden ein mit dem rotweißrotem Tuch bedeckter Sarg sichtbar wurde, der letzten Ruhestätte Julius Raabs zustrebte. Diese Bürger von Wien haben die Glockenschläge der Pum-merin, die Klänge der Bundeshymne — während dort drinnen in der Stadt der Trauerzug durch das äußere Burgtor langsam hinausgerollt war — nicht gehört, die Fahnen und die Uniformen nicht gesehen und etwas später auch die Stunde des Abschieds nicht miterlebt, als der große Kreis der Freunde, der Mitarbeiter, der höchsten Repräsentanten des Staates, der Botschafter und Gesandten aus vielen Ländern, im zertretenen Schnee unter verhangenem Himmel im stillen Gebet und in Gedanken verharrte, während der Bischof die Einsegnung vornahm und der treue Freund und Weggefährte Leopold Figl letzte Abschiedsworte sprach.

Als sich die Trauergemeinde langsam auflöste und ■ die Autokolonne sich wieder stadtwärts bewegte, war das Spalier nicht mehr da, und das Leben ging sozusagen weiter. Aber das Echo dieses Tages oder auch nur dessen, was viele Hunderttausende in Gedanken oder am Rundfunkapparat, vor dem Fernsehschirm sitzend erlebten, war nachhaltig und somit ein Phänomen, das man zu den großen Stunden der Zweiten Republik zählen muß. Wer in diesen Tagen nur einigermaßen darauf achtete, was die Menschen unter sich redeten, oder wer sich zum Beispiel erzählen ließ, welcher Sturm der Entrüstung in Form von Telephonanrufen einer anfänglichen Instinktlosigkeit der Fernsehdirektion gefolgt war, der weiß, daß hier kein Wahlmanager Regie geführt hat, sondern die Ergriffenheit der Österreicher echt war.

Julius Raab hat kein Staatsbegräbnis bekommen. Als Grund dafür wurden protokollarische Überlegungen, der letzte Wunsch des Verstorbenen angegeben und als letzter, vielleicht eigentlicher Grund, politische Rücksichten angedeutet. Die Bevölkerung hat all das — wohl mit Recht — nicht verstanden, aber rückblickend kann man sagen, daß Julius Raab dafür die seltene Ehre eines Familienbegräbnisses zuteil wurde, bei dem ganz Österreich zur größeren Familie des „Kanzlers“ gezählt werden konnte.

Raabs Popularität endete nicht an den österreichischen Grenzen. Die außergewöhnlich starke Anteilnahme nicht nur der Staatsmänner in aller Welt, sondern auch vieler einfacher Zeitgenossen in Ost und West, der warme Ton und die geradezu verblüffende Lebensechtheit der Nekrologe in zahlreichen ausländischen Zeitungen bewiesen das. Julius Raab war für viele Menschen in der Welt der würdige Repräsentant des österreichischen Volkes schlechthin, das sich seine Freiheit mit zäher Energie, aber mit friedlichen Mitteln erkämpfte und entschlossen ist, seinen Platz unter den freien Völkern der Erde zu behaupten. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Viele Menschen wünschen sich auch in anderen Ländern politische Persönlichkeiten, wie Raab eine war. Die Österreicher haben das seltene Glück gehabt, daß ein großer Sohn ihres Landes sein Lebenswerk vollenden konnte.

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