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Das Lamm

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Roman von Francois Mauriac. Drei-Brücken-Verlag, Heidelberg

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Roman von Francois Mauriac. Drei-Brücken-Verlag, Heidelberg

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Ich hätte mir einmal seine Schrift ansehen mögen, die Handschrift de; Xavier Dartigelongue aus Bordeaux, 22 Jahre alt, zu dem der Bruder sagte: „Du spinnst! Du bist eine Niete! Und das wirst du dein ganzes Leben bleiben .(S. 25.) Aber ich kann mir auch denken, wie sie war: dünn, druckschwach, liegend, sehr schräg, hemmungslos widerstandsarm, in die Außenwelt geschleudert, an sie verschleudert, mit monotoner Rechtsschräglage. Denn was dieser Dartigelongue für Regungen der Nächstenliebe hielt, war ein geheimer und gefährlicher Genuß. (S. 15.) Immer war irgendwer da, dem er gierig sein ganzes Gesicht zuwandte (S. 11) und immer mußte er seinen Fuß zwischen fremde Türen stellen, obwohl er seinen Vater und seine Mutter seit seiner Kindheit sagen horte: „Was kümmerst du dich um die anderen? Laß sie doch alleine fertig werden ...“ Liebte er denn? Nun, er sagte zu Jean de Mirbel, als sie sich gegenübersaßen im Zug auf der Fahrt nach Paris: „Ich weiß nur einen Grund, warum ich Priester werden will... um auf der Seite der Sünder zu stehen, um ihnen mein ganzes Leben zu weihen, mich ihnen hinzugeben, mit ihnen gerettet, mit ihnen verdammt zu werden.“ (S. 40.) Schön und gut. Das hatte er wohl in den Schriften der kleinen Therese gelesen (vielmehr Mauriac las es für ihn) und das paßte ihm; das nämlich rührte seine sensitive Natur, das reizte auch seine geistliche Phantasie. Aber mit Verlaub, wenn zwei dasselbe wollen, so braucht es noch nicht dasselbe zu sein. Ihm auf jeden Fall machte die Hingabe gar keine Mühe. Er sank ja ohnehin und sank und sank von einer Seele in die andere. Er wird sich hundertmal vorgesagt haben: „Mich ihnen hinzugeben, mich ihnen hinzugeben . ..“ und so wird man sich wohl hüten müssen, hinter den Eskapaden solcher Nächstenliebe gleich Heiligkeit zu wittern; denn es könnte sich vielleicht auch nur um einen Triebling handeln, dessen geistliche Maximen etwas zu sehr im Gefälle seiner Neigungen schwammen.

Das scheint denn auch der Fall zu sein. Es zeigt sich nämlich, daß er keine Resistenz hat. Immer läuft er dem Nächsten nach. Zuerst will er etwas tun für Michele. Sie rührt ihn in ihrer Verlassenheit, obwohl er gar nichts von ihr weiß und sich über sie nur allerlei zusammenphantasiert. Dann fühlt er sich plötzlich verpflichtet, für lean de Mirbel zu sorgen. Aber als er mit ihm zurückfährt, um die aus den Fugen geratene Ehe wieder in Ordnung zu bringen, trifft er im Hause Mirbels Dominique, die Sekretärin der alten Pian, und gleich ist er in sie verliebt, bis er Roland entdeckt, das Waisenkind, für das zu sorgen er sich gleich entschließt. Aber noch mitten in diesen Vorkehrungen taucht der vom Glauben abgefallene Pfarrer von Baluzac auf und schon sagt Xavier zu ihm: „Ich bin gekommen, Ihnen zu helfen Ihr Kreuz zu tragen ... oder vielmehr um es an Ihrer Stelle, zu tragen.“ (S. 194.) In dieser Weise also liebt er sich von einem zum anderen, hingebungsvoll und gierig immer den Nächsten ergreifend, wie ein Unterwasserwesen, das mit seinen Saugarmen umschlingt, was in die Nähe kommt. Ob man das nun Liebe nennen kann, dieses Hin- und Hergerissenwerden von den Reizen und Verführungen zur Hingabe? .. . Denn obwohl er widerstandslos auf alle zusank, an denen er Schicksal erschnüffelte, so mußte er in seiner Familie doch unaufhörlich gegen Regungen des Zorns und der Verachtung ankämpfen. (S. 16.) Weder sein Vater noch seine Mutter noch sein Bruder hatten Teil an dieser Liebe, von der er überfloß vor dem ersten Gesicht, das ihm flüchtig begegnete. (S. 16.) Vater und Mutter konnten wohl seine Neugier nicht mehr reizen; er wußte schon alles von ihnen, sie faszinierten ihn nicht mehr. Er sank nur auf Wesen zurück, die ihn nichtf angingen, an die er durch kein Band des Fleisches gebunden war. (S. 15.) Sein Herz zerschmolz vor Zärtlichkeit für Unbekannte. (S. 15.)

Alle gab er vor zu lieben: Jean de Mirbel, Michele, Roland, Dominique, den Pfarrer von Baluzac, nur Brigitte Pian ließ er aus. Diese Alte machte ihm Angst, denn sie war der Meinung, daß man diesen lungen hart anfassen müßte. (S. 120.) Sie durchschaute ihn und sagte zu ihm: „Ich werde Ihnen Ihre Zerstreuung entführen“, und dann machte sie sich mit ihrer Sekretärin auf und davon. (S. 134.) Zerstreuung? Nun, man könnte verschiedenes so nennen. Denn ein Sich-Zerstreuen war es jedenfalls; ein hemmungsloses Sich-Verschleudern an das erste Beste. Und so wollen wir denn unseren Verstand beisammen behalten und nicht sentimental werden. Fs ist nun einmal nicht alles Heiligkeit, was danach aussieht und nicht alles Liebe, was sich wie Liebe gebärdet. Wenn dieser Xavier glaubte, der liebe Gott kümmere sich persönlich um seine Wenigkeit und das unendliche Wesen arrangiere alle möglichen Begegnungen für ihn (S. 125), er sei aufgespart worden für ein Opfer (S. 18) und es sei kein Zufall, wenn er Wege kreuze und in Schicksale verstrickt werde (S. 14), so sind wir eher der Meinung, daß das richtig war, was ein Beichtvater diesem Xavier Dartigelongue schrieb: „Bei einer so sensiblen Natur.(wie sie eine haben), kommt alle Empfindung, die Genuß bringt, aus ihnen selbst und ihre Quelle ist verdächtig .. . Das Fleisch macht sich eben alles zunutze, zieht seinen Vorteil aus allem, sogar aus dem Stand der Gnade.“ (S. 19.)

Mauriac hat denn auch nirgends behauptet, dieser Dartigelongue sei ein Heiliger gewesen. Er läßt das nur den Pfarrer von Baluzac sagen und er läßt es leau de Mirbel dem Pfarrer von Baluzac nachsagen. (S. 229.) Er selbst aber hält mit seinem Urteil zurück. Begreiflicherweise, denn man kann einen Dartigelongue nicht zuerst in Grund und Boden analysieren und ihn als Schwächling entlarven, um dann plötzlich von ihm zu behaupten, nach einem reichlich problematischen Ende, er habe heroische Tugenden gehabt. Aber es ist doch zu sagen, daß es jetzt offenbar (seit „Galigai“) zu den Liebhabereien Mau-riacs gehört, aus ausgewachsenen Schafen so gewissermaßen hintenherum (Opfer-) Lämmer zu machen ... Denn dieser Roman beweist zwar wieder einmal die psychologische Könnerschaft Mauriacs und seine subtile Dialogtechnik, aber auch seine fragwürdig Problematik.

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