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DER FISCH UND DER FISCHER

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„Aber ich kann dir den Weg nicht freigeben“, sagte der Erzengel.

„Ich habe“, erwiderte der tote Fischer, „in meinem Erdenileben Gutes getan und Böses gebüßt.“

„Ja, aber hier ist noch eins, du kommst darüber nicht hinweg.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ f

„Du wirst dich daran erinnern müssen“, sprach der Erzengel, „obwohl schon viele Jahrzehnte seither vergangen sind. Du warst ein junger Mann und ein tüchtiger Fischer. An einem Tage war dein Netz wieder voll, voll glitzender, kleiner Leiber, die zahllosen Fische in deinem Netz glichen einander ganz und gar, an Länge, an Gestalt, an Alter, sie zuckten noch alle an der Grenze zwischen Wasser und Luft, zwischen Leben und Tod, und du zogst sie in deinem Netz herauf aus dem Wasser in ihren Tod.“

„Das kannst du mir nicht vorwerfen“, verteidigte sich der Fischer. „Es ist meine ehrliche Arbeit gewesen, sie zu fangen, die den Menschen als Nahrung lieb sind Ich habe die Fische nicht aus Bosheit getötet, sondern um mit einem rechten und geachteten Berufe mein Leben und das der Meinen zu fristen.“

Darauf entgegnete der Erzengel: „Es wird dir nicht übel vermerkt, daß du Fische gefangen hast, in der Zeit deines Lebens so viele, daß du ihre Zahl gar nicht nennen und begreifen könntest. Aber an dem Tage, den ich meine, hast du aus der zuckenden, schillernden Unmenge der einander gleichenden Fische einen herausgenommen, ihn hochgehoben und betrachtet und hast zu dir selbst gesagt: Welche Macht besitze ich doch über die tausendfältig wimmelnde Kreatur, ich lasse all diese Fische absterben, doch den einen, diesen hier, den meine Laune aus der Vielzahl der ihm gleichen hervorgeholt hat. diesen Fisch will ich begnadigen Ich habe die Macht, ihm sein Leben zu schenken, ich erlöse ihn von dem Tode der anderen, ich gebe ihm und gerade ihm, weil ich es so will, die Freiheit zurück! Und indem du dies dachtest, warfst du in weitem Bogen den kleinen Fisch ins Wasser zurück. Erinnerst du dich jetzt daran?“

„Ich erinnere mich daran“, gab der Fischer zu. „Doch kann ich nicht verstehen, weshalb du mar dies vorhältst. Es war eine gute Tat, dem Fische Freiheit und Leben wiederzugeben.“

„Er kam zu uns und beklagte sich über dich.“

„Wie durfte er sich beklagen, da ich ihn doch begnadigt und gerettet hatte?“

„Er, war im Recht“, entgegnete der Erzengel, „und du bist im Unrecht. Denn nicht durch deine Liebe hast du diesen Fisch über die Unmengen der anderen erhöht —“

„Wie könnte ich einen Fisch lieben“, wagte der Fischer einzuwenden, „und. gar einen Fisch unter tausenden gleichen!“

„ — du hast den einen nicht aus Liebe befreit, sondern aus Hochmut. Du meintest, Herr der Geschöpfe zu sein, und wünschtest, dir selbst deine Macht sichtbar zu machen. Nicht dein Herz sprach, nein, deine Begierde, nach Lust und Dünkel über Leben und Tod zu entscheiden.“ /

„Soll die Klage, die ein kleiner, törichter Fisch gegen mich erhoben hat, stärker sein als meine guten Werke?“

Darauf der Erzengel: „Mit deinen guten Werken hast du die bösen Taten ausgelöscht. Aber der kleine Fisch ist damit nicht stumm geworden. Er ist es, der mich daran hindert, dir den Weg in die Seligkeit freizugeben “

Von Verzweiflung übermannt, klagte der Fischer: ),Was soll nun aus mir werden? Hilf mir doch! Rette mich!“

Allein der Erzengel schwieg. Er stand fest und breitbeinig vor der verschlossenen Pforte.

Da aber erhob sich eine ferne und zugleich nahe Stimme: „Ich bin das Recht. Doch bin ich noch mehr. Ich bin die Gnade “

Der Erzengel, als er dies vernahm, gab den Weg frei, und der tote Fischer ging in den Himmel ein.

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