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Der Hirt

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Thomas mußte von weitem zusehen, wie Peter, der alte Dorfhirt, gefällt wurde und zu Boden sank wie ein morscher Baum. Der junge Knecht schritt eben auf der Kimme des Hügels, als der große Stier, der Herr der Galtviehherde, seine Hörner gegen den Hirten senkte. Dann lief alles ab wie eine stumme, dramatische Bilderfolge. Der Alte hob den Stock schwankend — vielleicht hatte er schon am Vormittag zuviel getrunken, das geschah in der letzten Ick zuweilen — dann aber ließ er ihn sinken und wandte sich um, als wollte er fliehen. Im nächsten Augenblick hatte ihn der Stier erreicht, hob ihn auf die Hörner und stieß ihn dumpf auf den steinigen Feldweg.

Als der Stier den Angefallenen mit dunklem Brummen zu Boden drückte, lief Thomas schon quer über den Acker herab, daß die Schollen flogen. Er schrie und schwang die Arme, aber das plötzliche bösartige Tier tat sein Werk bis zum Ende. Es hatte dessen nicht mehr viel bedurft — bis Thomas das Wiesental erreichte, stand der Stier mit dumpfem Bühlen schon abseits und wühlte mit den Hörnern in einem Erdhaufen.

Der Alte war von seinem Schmerz schon erlöst. Der Brustkorb war eingedrückt — er atmete nicht mehr. Etwas erstarrte sekundenlang in Thomas. Er war mit seinen zwanzig Jahren dem Tod noch nie so nahe gewesen wie in diesem Augenblick. Scheu blickte er um sich. Schwieg nicht auch die Natur um ihn erstarrt — stand er doch allein mit den Toten?

Aber da half nun nichts mehr. Stumm bückte er sich und wischte die paar Blutstropfen weg, die auf den bleichgewordenen Lippen lagen. Der tote Hirt schien ihm schwerer als im Leben, da er ihn keuchend aufhob, um ihn hinüber in das Dorf zu tragen. :,

Thomas war noch nicht weit gegangen, da fühlte er, daß der Stier sich noch einmal näherte. Ihn faßte eine plötzliche Wut gegen das Tier; er ließ die Last zu Boden gleiten, hob einen Stein auf und lief dem dumpf bühlenden Stier entgegen. Auch dieser hielt an — es gab einen dröhnenden Ton, als der faustgroße Stein zwischen den gewaltigen Hörnern aufprallte. Vielleicht bezwangen ihn die furchtlosen Augen des jungen Knechtes — vielleicht überraschte ihn der unerwartete Angriff; er wandte sich schnaubend ab und trabte zu seiner Herde zurück.

Thomas erzählte im Dorf nur kurz, was geschehen war. Oben auf dem Hügel hatte das Ochsengespann indes nichts weiter getan, als ein paar Meter des saftigen Feldrains abgegrast. Er zog den Pflug wieder in die unfertige Furche zurück und setzte von neuem an.

Doch als er am Abend mit der sinkenden Sonne heimkehrte, warteten schon die Bauern des kleinen Dorfes auf ihn. Er stellte sein Ochsengespann in den Stall, tat Futter in den Barren und hörte nur halb auf ihre Reden hin. Zuletzt aber wußte er doch, was sie auf dem Herzen hatten. „Ich soll Sommerhirt werden für den Peter? Aber sind nicht andere im Dorf besser dafür zu brauchen?“ Er empfand keine große Freude bei dieser Aussicht.

„Du taugst dazu am besten!“ sagten die Bauern wie aus einem Munde. „Du wirst des großen Stiers am besten Herr; wir brauchen ihn zur Zucht und können ihn jetzt nicht wegtun.“

Thomas war ein einfacher Knecht — das Vertrauen schmeichelte ihn einen Augenblick lang. So sagte er nach einigem Zögern zu.

So war Thomas unversehens Hirt geworden. Als Kind hatte er große Stiere eigentlich immer gefürchtet. Und da er ein Mensch war, der mit einfachem Sinn alles ganz tat, wozu er sich einmal hergegeben hatte, so wurde er seiner nicht geringen Aufgabe erst recht bewußt, als er am nächsten Morgen die große Herde Sommervieh gegen den großen Wald zu trieb. Zwei Stunden tief im großen Wald lag eine Wiese, die dem Dorf gemeinsam zugehörte.

Als Thomas vorbeitrieb am letzten Haus, stand Birgitt unter der Tür. „Wird es dir nicht einsam werden im Wald?“ fragte sie.

„Einsam?“ Daran hatte er noch nicht gedacht. Allerdings — aber zuweilen käme doch wer vorbei. Beeren wüchsen im Wald und Schwämme, und die wären noch jedes Jahr gepflückt worden.

Birgitt lächelte darauf seltsam. „Ja, alle Jahre!“

Später im Wald dachte Thomas noch öfter an diese Worte. Ja, einmal ertappte er sich sogar suchend nach Eierschwämmen, die , gelb durch die feuchte Walddecke purzelten.

Der große Stier wollte sich nicht an den neuen Herrn gewöhnen. Es, war etwas aufgewacht in ihm, das dumpfe Gefühl seiner Überlegenheit gegenüber dem Menschenwesen. Er umlauerte ständig Thomas, und dieser mußte wachsam sein, daß er dem Stier nicht unversehens den Rücken zuwandte. Es war ein wertvolles Tier, den Bauern galt er als unbezahlbar.

So füllte sich für den jungen Hirten die Einsamkeit langsam mit einer geheimen, immer unerträglicheren Spannung. Tat eine offene Entscheidung not, so fügte sich der Stier dumpf buhlend. Dann trottete er zwanzig Schritt weit und wandte sich darauf stumm und abwartend um, ob Thomas sich auch nachzufolgen wagte. Mensch und Tier umlauerten sich in der Tiefe der ursprünglichen Natur, wo ein jedes nur auf sich allein gestellt war.

Thomas überwand seine geheime Furcht, er durfte sie nicht sichtbar werden lassen — aber tiefer bekümmerte es ihn, daß er das Vertrauen seiner Bauern nicht zu erfüllen vermochte.

Doch wenn einmal in der Woche ein alter Bauer kam und ihm Nahrung aus dem Dorf brachte, dann schwieg er darüber.

Einmal tauchte Birgitt hinter den Büschen auf. Er hatte zuweilen verstohlen nach ihr ausgeschaut, aber nun erschrak er doch, als hätte sie seine Gedanken erraten. Sie standen sich eine Weile wortlos gegenüber, und das Mädchen lächelte ein wenig überlegen über seine Fassungslosigkeit.

„Wie geht es dir mit dem Stier? Alle reden ja im Dorf, was du für einer bist!“ brach Birgitt das Schweigen.

„Ja, der Stier — aber du möchtest wohl Pilzplätze wissen?“ lenkte er von seiner Sorge ab.

„Ach du — wenn du mir welche zeigen könntest!“

Thomas' Gedanken waren noch voll der Sorge um den Stier, so blieb ihm auch die tiefere Lockung in Birgitts Worten verborgen. Erst als sie gebückt und eng aneinander gedrückt durch die dichten Buchenbüsche stiegen, begann sein Herz lauter zu klopfen Er war nur ein armer, junger Knecht und hatte die Mädchen bisher nur von ferne betrachtet Vielleicht hätte Birgitt draußen im Dort vor den andern gar nicht viel seiner geachtet — hier jedoch fand sie geheimes Gefallen an der tieferen Erregung seiner Gefühle

Thomas aber sank von Schritt zu Schritt in immer tiefere Verwirrung. Es rauschte das Geblätter dei Büsche die Sonne fiel hinab hinter dunklere Wolken.

Als Birgitt einmal durch die Büsche auf die Wiese trat, prallte sie zurück. Zwanzig Schritte vor ihr stand der Stier, groß und drohend. Feindselig wandte er den Kopf herum.

„Ach, der Stier! Hast du ihn schon wieder gezähmt, Thomas?“ lächelte sie krampfhaft.

„Nein, komm zurück, Birgitt — dein lichtes Kleid!“ wollte der Hirt sie mit jähem Unbehagen zurückhalten.

Aber Birgitt hörte nicht auf ihn. Sie war schon im Gehen und hielt ein Büschel Gras vor sich hin. „Komm, du Böser, du! Komm!“

„Birgitt!“ Thomas sah noch, wie der Stier den Kopf senkte — da wandte sich die Angerufene um und lief davon auf die Büsche zu. Sie achtete nicht mehr auf seinen Ruf, der sie zu sich her befahl. Der Stier buhlte auf, schlug in den Boden, daß der Rasen flog, dann sprang er der Fliehenden nach.

Mit seinen bloßen Händen warf sich Thomas dazwischen. Ein kurier Ruck des Kopfes — der Stier hatte ihn zur Seite geschnellt. Der Hirt erhob sich taumelnd — krachende Büsche, ein flatternder roter Fetzen tiefer im Gehölze: Da blieb keine Wahl.

Birgitt lief um ihr Leben. Thomas versuchte, den Stier zu überholen und schlug brüllend mit den Fäusten auf ihn ein. Das schnaubende Tier achtete kaum darauf. Schneller, Thomas, schneller! Er mußte zwischen Stier und Mädchen kommen!

Da — quer vor ihnen stand der tiefe Bach! Birgitt konnte nicht hinüber, sif mußte einen Augenblick verhalten, ehe sie abwich.

Dort, an der Biegung des Wasserlaufs, mußte sie der Bühlende einholen!

Jetzt hatte er den Stier überholt. Ein Knüppel lag vor ihm entrindet und hart. Im nächsten Augenblick schwang er ihn empor und schlug dröhnend gegen den Schädel des Stiers. Der brüllte murrend, hielt an — noch ein Hieb! Das mächtige Rind drang auf Thomas ein.

Lauf, Birgitt, lauf!

Thomas kannte sich nicht mehr. Eine eiskalte Ruhe war über ihn gekommen. Seine Augen glühten dem eindringenden Tier entgegen. „Steh hörst du! Bleib stehn!“ flüsterte er heißer und schlug von neuem zu

Thomas stand zuletzt an eine junge Erle am sumpfigen Bachrand gedrängt. Als er den pressenden Druck des Stiergehörns gegen da* Bein spürte entfiel ihm der Knüppel — der Baum hinter ihm wankte unter dem Stoß. Der Stier hielt erschöpft inne und sank in die Knie.

Starr lehnte der Hirt vor dem murrenden Tier. „Muler, Muler, was hast du!“ Mit zitternder Hand kraulte er ihm über das breite Genick Langsam sanken Schatten herab, es schwanden ihm die Sinne.

Er kam bald wieder zu sich. Der Stier stand über ihm und leckte ihm mit seiner rauhen Zunge über das Gesicht. Mit einem Ruck schnellte sich der Hirt hinter den Baum. Da tappte ihm der Stier langsam nach.

Er wich auch später nicht mehr von der Seite des Hirten Humpelnd auf einem Bein und die Arme über das breite Genick des Stiers geschlungen, erreichte Thomas seine Hütte an der Waldwiese. Ein Schenkel war abgedrückt. Am Abend lag er schon fiebernd auf der Strohschütte im Stall, und die Rinder umstanden ihn brüllend.

Der Hirt hätte hilflos verderben müssen, hätte nicht eine Kuh mit schmerzendem Euter von der ungemolkenen Milch den Weg ins Dorf gesucht. Das machte die Dörfler unruhig.

Hinter den Bauern kam auch Birgitt. Thomas lächelte zu ihren besorgten, abbittenden Worten — sie berührten ihn jetzt nicht weiter mehr. Er ließ seinen Blick von ihr weg über seine Herde gehen und sagte nur: „Aber der Stier, Birgitt — jetzt ist er mir untenan!“

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