Der letzte Schreier von Notre-Dame

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Renato Häusler ist Turmwächter der Kathedrale in Lausanne am Genfersee. Als Letzter seiner Zunft in Europa ruft er Nacht für Nacht die Uhrzeit aus, wie seine Vorgänger seit 600 Jahren.

C’est le guet. Il a sonné dix! Il a sonné dix!“ ("Hier ist der Wächter. Es hat zehn geschlagen! Es hat zehn geschlagen!“): Mit diesem Ruf beginnt täglich um 22 Uhr die Arbeitsschicht von Renato Häusler. Er steht dreißig Meter über dem Boden am Balkongeländer auf dem Turm der evangelisch-reformierten Kathedrale Notre-Dame, des bedeutendsten gotischen Bauwerks der Schweiz. Zu seinen Füßen liegt die hell erleuchtete Altstadt von Lausanne. In der Ferne schimmert schwarz der Lac Léman.

Schweren Schrittes ist Häusler zuvor die 153 Treppenstufen zu seinem Arbeitsplatz hochgestiegen, unter dem Arm eine alte Chiantiflasche voll mit Brunnenwasser. Nach seinem Stundenruf zieht sich der 52-Jährige in sein winziges Turmzimmer im Dachgebälk zurück, das ihm als Aufenthaltsraum dient. Die Kammer erinnert ein bisschen an eine Mönchszelle. Ein Bett, einige Regale, ein Tischchen, das aus der Wand ragt. Ganz still ist es hier, wenn nicht gerade die tonnenschwere Turmglocke "Marie-Madeleine“ durch die Wand dröhnt.

Mit Blick auf den Mont Blanc

An dem Ort, an dem sich alles um die Zeit dreht, scheint die Zeit selbst stehengeblieben. Seit mindestens 1405 gibt es einen Wächter in Lausannes Hauptkirche, der auch "crieur“ ("Schreier“) genannt wird. Früher sollte er, wie viele seiner Zunft in anderen Städten, nachts Ausschau halten und aufpassen, ob in den engen Gassen irgendwo Feuer ausbrach, die öffentliche Ruhe gestört wurde oder aus der Ferne Kriegsheere nahten. Diese Aufgabe endete spätestens im 20. Jahrhundert, und den sagenumwobenen Berufsstand der Türmer braucht es nicht mehr. Doch der "guet“ vom Genfersee ist geblieben.

Renato Häusler verkörpert seine Rolle mit Überzeugung. Er ist ein mittelgroßer Mann mit dunklen Haaren und eindringlichen Augen. Fast unbemerkt kommen die tiefen Einsichten über seine Lippen, die er in den langen Stunden des Wachens gewonnen hat, wie man meint. Er bezeichnet sich selbst als Gläubigen, obwohl er keiner Konfession angehört. Und er führt vier Gottesbeweise an, die er kenne, nämlich das Leben, die Liebe, die Kunst und die Schönheit.

Sobald der Stundenschlag der Glocke das Gespräch unterbricht, erhebt sich Häusler wortlos, setzt einen schwarzen Filzhut auf, zündet die Kerze in seiner Laterne an und verschwindet durch die Türe. "C’est le guet. Il a sonné onze! Il a sonné onze!“, erklingt seine Stimme in alle vier Himmelsrichtungen. Nach Süden hin kann man in mondhellen Nächten bis zur Spitze des Mont Blanc sehen.

Der Welt entrückt wirkt dieser Ort, und einen Moment lang scheint es, als wären all die Männer gegenwärtig, die über die Jahrhunderte hinweg zwischen den Sandsteinsäulen der Balustrade und den Eichenbalken des Dachstuhls ihren Dienst taten. Nur einmal verstummte die Stimme des Schreiers auf tragische Weise: als am 10. Dezember 1948 Charles Mignot nach einem Stundenruf einen Herzinfarkt erlitt und tot zusammenbrach.

Immer schon war die Tätigkeit des Türmers einsam. Im Mittelalter zählte sie zu den "unehrlichen Berufen“ und war an strenge Vorschriften gebunden. So legten etwa die Stadtherren des nordschweizerischen Schaffhausen einst fest, dass der Wächter der Hauptfestung Munot seine Zinne nur verlassen durfte, um einmal in der Woche den Gottesdienst und alle zwei Wochen das öffentliche Badehaus zu besuchen. Ein populäres helvetisches Volkslied besingt sein trauriges Dasein und sein Herzensleid wegen einer geliebten Frau: "Auf dem Turme musst ich wachen, / Gott, wie ist die Welt Betrug! / Ach man küsste mir mein Liebchen, / während ich die Stunde schlug.“

Die symbolträchtige Rolle der alleine ausharrenden und alles überblickenden Türmer inspirierte auch Johann Wolfgang von Goethe, als er ihrer Zunft im zweiten Teil des "Faust“ ein Denkmal setzte. Dort wird der scharfäugige Lynkeus auf seiner Schlosswarte Zeuge der Brandstiftung durch Mephisto und spricht von sich selbst: "Zum Sehen geboren, / zum Schauen bestellt, / dem Turme geschworen, / gefällt mir die Welt.“ Goethes Dramengestalt, deren Name aus der griechischen Mythologie stammt und "Luchs“ bedeutet, lebt seit 1948 ebenfalls als Namenspatron der Nürnberger Freimaurerloge "Lynkeus der Türmer“ fort.

Eine Berühmtheit, die kaum jemand kennt

Historische Wächter wie Renato Häusler dagegen, deren Position über den Lauf der Zeit hinweg stets besetzt war, gibt es in Europa mittlerweile nur noch ungefähr ein halbes Dutzend. Der "crieur“ von Notre-Dame ist der letzte, der jeden Tag die Uhrzeit verkündet. An drei Orten in Deutschland ist die Tradition auch ohne Unterbruch lebendig geblieben: Im niedersächsischen Celle bläst der Türmer der Marienkirche zweimal täglich eine Trompetenfanfare, in der St. Annenkirche von Annaberg-Buchholz im Erzgebirge wohnt die einzige Türmerfamilie hierzulande auf 42 Metern Höhe, und im schwäbischen Nördlingen ruft der Wächter des Kirchturms von Sankt Georg mehrfach nachts "So G’sell so“ über die Dächer, zur Erinnerung an einen im 15. Jahrhundert entlarvten Stadtverräter.

Abgesehen davon wurden mancherorts in der jüngsten Vergangenheit ehemalige Türmerposten wieder neu besetzt, meist aus touristischen Gründen. Fast sämtliche Berufsgenossen haben sich in der "Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft“ zusammengeschlossen, gemeinsam mit den Nachfolgern der einstigen Bodenwächter, von denen anno dazumal Tausende patrouillierten. Viele Mitglieder sind allerdings nur hobbymäßig tätig und führen in mittelalterlicher Verkleidung Besucher durch die Städte.

Renato Häusler übernahm sein Amt 2001 vom Comiczeichner Philippe Becquelin. Zuvor war er seit 1987 aushilfsweise auf dem Turm beschäftigt. Er möchte, wie er erklärt, seine Aufgabe bis zur Rente erfüllen. Längst ist er eine lokale Berühmtheit am Genfersee, obwohl kaum jemand sein Gesicht kennt. Manchmal bekommt er für seine Zeitansagen spontanen Applaus von Nachtschwärmern, die auf der Place de la Cathédrale vorbeispazieren. Nur selten ruft ein betrunkener Jugendlicher: "Ta gueule!“ ("Halts Maul!“)

Häuslers Stimme ist inzwischen auch in einer der Metrolinien von Lausanne zu hören, wenn die Haltestellen durchgesagt werden. Zum 600-jährigen Jubiläum der ersten urkundlichen Erwähnung des "guet“ gab es 2005 ein Volksfest in der Stadt, die als Sitz des Internationalen Olympischen Komitees und des eidgenössischen Bundesgerichts bekannt ist. Damals reisten extra der Wächterkollege von Ripon sowie einer aus dem polnischen Krakau an und übernahmen zur Feier des Anlasses einige Stundenrufe.

Während die Schicht des Schreiers früher bis zum Morgen dauerte, ist sie heute um zwei Uhr zu Ende. Dann legt sich Renato Häusler in der Ecke seines Zimmers schlafen, weil ihm die Zeit fehlt, nach Hause zu fahren. Nur an Wochenenden und in den Ferien verrichtet einer seiner Stellvertreter für ihn den Dienst. Tagsüber arbeitet der zweifache Familienvater, der mit einer Frau aus Sri Lanka verheiratet ist, als Sportlehrer für Behinderte. Außerdem betreibt er eine Stiftung für Aidswaisen in Afrika. Das sei sein christliches Engagement, meint der Vielbeschäftigte bescheiden.

Meister des Lichts

Für eine Benefizaktion ist Häusler bereits einmal 1000 Kilometer am Stück geradelt, vier Mal um den Léman, dessen französisches Ufer jetzt am dunklen Horizont glitzert. Dabei fuhr er durch zahlreiche der Dörfer und Weinberge, in denen die Reichen und Schönen der Welt ihre Häuser gebaut haben. Die Nordseite des "Grand Lac“ gehört schon lange zu den bevorzugten Wohngegenden prominenter Exilanten. Hier verbrachte Charlie Chaplin seinen Lebensabend, komponierte Igor Strawinsky "Le sacre du printemps“ und jagte Vladimir Nabokov, der Schöpfer von "Lolita“, den Schmetterlingen nach.

Seine stärkste Leidenschaft verrät Renato Häusler jedoch erst zum Schluss des Gesprächs. Vor einigen Jahren hat er damit angefangen, seine eigene und andere Kirchen zu besonderen Gelegenheiten kunstvoll auszuleuchten, und zwar unter Verwendung von ausschließlich natürlichem Licht. "Illuminations à la bougie“ steht auf seiner Visitenkarte - "Illuminationen mit Kerzen“. Ganze Basiliken taucht er in ein Flammenmeer. Die Installationen sind vergängliche Meisterwerke.

Vielleicht werde er eines Tages nur noch dies tun, sinniert Häusler. Aufträge erhält er immer mehr, mittlerweile sogar aus dem Ausland. Im nächsten Dezember wird er die Kathedrale des Fürstentums Monaco zur 100-Jahrfeier ihrer Einweihung im Schein von über 3000 Kerzen erstrahlen lassen. Der Nachtwandler von Notre-Dame ist ein gefragter Mann, auch als Meister des Lichts.

www.kalalumen.ch

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