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DER STERN DAVIDS

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Das Kind, das am späten Nachmittag gekommen war, war der letzte Kunde des Tages. David Goldstern schloß nach ihm seinen Laden. Kein gutes Geschäft, gar kein gutes Geschäft, dachte er. Er war eben schon zu alt. Und er konnte Kinderaugen nicht so ansehen. Lieber kein gutes Geschäft, als Kinderaugen so lange ansehen. Augen, die zuviel an Jakob und Adam erinnern. Jakob und Adam, Gott sei gepriesen, hatten sie ihm genommen, als sie noch diese Augen hatten. Sie hatten sie irgendwohin verschleppt und verbrannt. Gott sei gepriesen! Aber David sagte nicht mehr „Gott, der Gerechte“. Früher hatte er immer hinzugefügt: der Gerechte. Viel früher. Vielleicht war Gott damals wirklich noch gerecht.

Das Kind hatte ihm eine Krippe verkauft. Kein schlechtes Geschäft vor 14 Tagen noch. Aber heute war Weihnachtsabend. Da brauchen die Leute Klippen, aber sie kaufen sie nicht mehr. Die Figuren bleiben liegen. Kein gutes Geschäft. Aber die Kinderaugen sind weg, Gott sei gelobt! Der Stall aus Holz, ein Ochs, ein Esel, zwei Engel, drei Hirten, das heilige Paar, das Christkind samt Krippe. Ein goldener Stern dazu. Keine Könige, keine Schafe. Viel zu viel Geld für die wenigen Gestalten. Man wird sehen. Die Zeiten sind schlecht.

David Goldstern ließ heute den Rollbalken seines Trödlerladens nicht herab. Er wollte ein wenig von der Straße sehen, auf der schmutziger Schnee lag. In der Luft tanzten jetzt auch ein paar Flocken. Es war nicht gar so kalt Gott sei gepriesen!

David verschloß die Ladentür sorgfältig und schlurfte durch sein Ladengewölbe in die Hinterstube, die ihr Licht durch eine Milchglasscheibe aus dem Geschäft erhielt. Auch die Hinterstube war mit Trödlerwaren angefüllt. Es roch nach Bodenöl, Mottenpulver und viel Staub. Es blieb gerade noch so viel Platz, daß man sich zwischen einem wackeligen Messingbett und einem kleinen, etwas zersprungenen Intarsientisch umdrehen konnte. David genügte dieser Raum. Durch den offenen Rollbalken fiel der Lichtschein der Straßenbeleuchtung auf die Milchglasscheibe. Menschen, die draußen vorübergingen, warfen Schattenspiele an die Tut. Ungeheuer waren es meist, schlimme, gefräßige, hinterlistige Tiere. Gott möge uns bewahren!

David Goldstern fürchtete sie nicht. Er fürchtete nichts mehr. Mirjam fürchtete er ein wenig. Den Geist Mirjams, der ihn manchmal besuchte. Mirjam machte ihm Vorwürfe. Er hatte das Geld damals nicht aufgebracht. Er war vorausgefahren und wollte sie noch holen. Er hatte zu wenig Geld. Jakob und Adam hatten sie schon geholt. Mirjam konnte sich zu lange nicht entschließen, die Stätte, an der sie sie zuletzt gesehen hatte, zu verlassen. Die Kinderaugen! Mirjam war schuld. Er sagte es ihr immer wieder, wenn sie ihn in den Nächten besuchte. Er sah sie, so wie er sie für eine Stunde oder zwei verlassen hatte. Der graue Mantel mit dem gelben Stern an der Brust. Mirjam versuchte nicht, wie andere aus dem Verwandtenkreis, eine Tasche gegen die Brust zu drücken und den Stern zu verdecken. Sie trug ihn offen und stolz. Es war der Stern Davids. Später hatten sie ihr die Haare abgeschnitten und die Zähne ausgebrochen. Und ihre Asche wehte irgendwohin über Felder, auf denen Bauern gingen, die nichts wußten und rochen, über Häuser und Städte, in denen sie gerade beim Abendessen saßen und im Radio Marschmusik hörten. Bei Gott, Mirjam war schön. David hatte sie über alles geliebt und seine Söhne aus einer verschwenderischen Liebe gezeugt. Und die Hand Gottes war über ihnen. Der Herr sei gelobt! Der Gerechte — bis damals.

Die Gestalten auf der Straße wurden selten. David Goldstern nahm die Krippe zu sich in die Hinterstube und stellte sie auf den Intarsientisch. Armes Kind, dachte er. Armer Jesus! Gott war nicht gut zu dir. Draußen läuteten Glocken. David steckte das brüchige Kabel seines Elektrokochers in die Stromdose und begann die Feier des Abends mit einer billigen Zigarre. Gott sei uns gnädig! Mirjam wird heute nacht wieder kommen und an seinem Bettrand sitzen, mit dem Kopf wackeln und ihre abgeschnittenen Haare herzeigen. Er kann ihr nicht helfen. Er ängstigt sich vor ihr und ist doch froh, wenn sie da ist. Sie kommt und steht vor seinen flimmernden Blicken. Er wirft sich angezogen auf sein Lager. Und während er in den Räumen über sich Schritte hört und alte Volkslieder, erzählt ihm Mirjam wieder die gleiche Geschichte: daß es so windig war auf dem Bahnhof, und daß sie nichts anzuziehen hatte, und daß sie so an ihn gedacht hätte, als sie in das Lastauto verladen wurden. Dann deutet Mirjam auf die Krippe. Kein gutes Geschäft. Sie ergreift den Stern, den goldenen Stern, und, das hatte sie nie getan, sie lächelt. Sie verneigt sich vor dem Stern und dem kleinen Kind in der Krippe. Da sieht David, wie auch das Kind sich bewegt. Das Krippenkind, das Christkind. Es will etwas herausreichen. Ein Lichtschein geht von ihm aus. Jetzt erkennt David, was das Kind in der Hand halt. Es ist eine Dornenkrone. Seltsame Gesten: Mirjam weist auf David hin, und er greift nach dem Folterkranz.

Von dem Schmerz erwacht er. Es ist Mitternacht vorbei. David Goldstern muß den Rollbalken seines Ladens schließen. An der Türe steht er starr, und ein eisiger Schrecken, unvergleichbar jener fast schon anheimelnden Angst vor Mirjam, durchzuckt ihn. Auf seine Trödlerauslage ist der Davidstern gemalt. Mit roter Farbe und noch feucht. Unsymmetrisch, unerklärlich. In der Stille hört David Goldstern Stiefelschritte, die in seinen Ohren dröhnen. Die Stiefel! Gott soll verhüten! Kaum entziffert er das häßliche Wort, das ihm in der Friedensnacht ans Fenster gemalt worden war. Heim, heim zu Mirjam! Sie holen mich wieder. Sie holen uns alle. Immer wieder. Gott ist nicht gerecht. Gott sei gelobt!

Er fiel auf den schwarzen, geölten Boden und blieb dort zwei Tage und zwei Nächte liegen.

Die Polizei nahm ein Kind fest, das sich in der verdächtigen Zeit mehrmals in der Nähe des Trödlerladens hatte sehen lassen. Die Geschichte von einer verkauften Krippe hörten die Beamten ungläubig. Sie fragten nach den Auftraggebern des Kindes. Ein sportlicher junger Arzt mit einer Mensur an der linken Wange öffnete gerade die Leiche David Goldsterns, als der Rolladen vor dem Trödlerladen geschlossen wurde, um das Geschmiere zu verdecken. Später hing an diesem Rolladen ein Zettel mit der Ankündigung der Versteigerung.

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