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Der Tod Leo Tolstojs

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Ostapowo ist eine kleine Sation an der Moskau—Rjasaner Eisenbahnlinie. Hier erfüllte sich am 20. November 1910 das verwirrend reiche und widerspruchsvolle Leben, Schaffen und Schicksal Leo Tolstois. Von unheilvollen Beratern und eigenen Familienangehörigen aus der Geborgenheit des Hauses gedrängt, ist der 82jährige Tolstoj auf der Flucht an einer Lungenentzündung erkrankt. Die kleine Bahnstation erlebt zwei große Dramen: den Tod des Mannes und das Heldentum der Gattin Ssonja, die durch Eifersucht und Intrigen vom Sterbebett des Mannes ferngehalten wird. Mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin bringen wir im folgenden das Schlußkapitel aus dem Roman AIja Rachmanowas „Tragödie einer Liebe“. Die „Furche“

Müde gehen die Journalisten während des regnerischen Morgens auf dem Bahnsteige auf und ab und warten auf Neuigkeiten aus dem Stjjtionsvorsteherhäuschen. Endlich sind die langerwarteten Professoren Schtschurowski und Us-sow aus Moskau angekommen. Es wird gemeldet, daß Lew Nikolajewitsch die Nacht unruhig verbracht hat, und daß er gegen Früh zu phantasieren begann. Die Temperatur beträgt 37,2, die Atmung 40. Die Schwäche ist schon sehr groß, und das Herz arbeitet schwach.

Ssonja wartet mit Ungeduld, bis Professor Schtschurowski vom Besuche des Kranken zurückkehrt. Sie nährt leise die Hoffnung, der berühmte Arzt würde ihr doch vielleicht den Besuch bei ihrem Manne gestatten. Freilich, werden es Ssascha und Tschertkow aber nicht doch zuwege bringen, ihm einzureden, daß das für den Kranken schädlich wäre? Sie sinkt in ihrem Waggon in die Knie und betet unter heißen Tränen zum Allmächtigen, er möge die steinharten Herzen dieser Menschen erweichen. Vielleicht hat Ljowotf'hka nur mehr einige Tage zu leben, vielleicht sind ihm nur mehr noch Stunden eines klaren Bewußtseins gegeben! Und sie sollte ihn vor seinem Tode wirklich nicht mehr sehen, ihm nicht einmal ein einziges Abschiedswort sagen dürfen?

Eine halbe Stunde etwa hat das Konsilium der Aerzte gedauert. Sechs Aerzte waren um das Krankenbett versammelt, und am Schlüsse ihrer Beratungen gaben sie folgendes Bulletin heraus:

„Ein Uhr. Temperatur 37,2. Der Prozeß in der Lunge ist stationär. Die Herztätigkeit flößt ernste Besorgnis ein. Das Bewußtsein ist ungetrübt.“

Die Aerzte begeben sich zu Ssonja in den Waggon und machen ihr von dem Zustande des Kranken Mitteilung, aber Professor Schtschurowski verbietet ihr kategorisch, ihn zu sehen. Ssonjas letzte Hoffnung ist zunichte geworden!

Nachmittags erfährt Ssonja, daß Lew Nikolajewitsch einen Anfall von Herzschwäche gehabt, daß man ihm Sauerstoff zum Atmen gegeben hat und daß er sehr leidet. Man erzählt ihr, er sei mit allen sehr lieb und sanft, es bedrücke ihn aber, daß man ihn mit solcher Aufmerksamkeit pflegt.

„Wenn ich ein einfacher Muschik wäre“, sagte er. „würde man nicht so viele Umstände mit mir machen!“

Und traurig habe er dann hinzugefügt:

„So ist es mir also doch bestimmt, in der Sünde zu sterben!“

Heute wacht Tanja am Bette des Kranken, sie hat Ssascha abgelöst, die vom langen Wachen schon ganz erschöpft ist. Ssonja aber muß untätig im Waggon bleiben.

Gegen Abend erzählt man ihr, daß Lew Nikolajewitsch nach einem Anfalle zu Tanja gesagt hat:

„Ich rate euch allen, daran zu denken, daß es auf der Welt viele Menschen gibt, ihr aber kümmert euch immer nur um den Lew Nikolajewitsch allein!“

Nach dem Anfalle haben sich die Gesichtszüge des Kranken leicht verzogen, dann aber nahmen sie bald wieder ihren früheren ruhigen Ausdruck an. Um neun Uhr findet wieder ein Konsilium statt, doch Ssonja hat nicht mehr die Kraft, den Waggon zu verlassen. Wozu auch? Soll sie wieder vor dem Fenster stehen, um nichts anderes zu sehen als den dichten, weißen Vorhang, die verschlossene Tür und die nassen, schwankenden Zweige der Birken?

Um elf Uhr nachts läßt Ssonja einen Arzt in den Waggon kommen, der ihr alles genau berichten muß. Die Temperatur hat sich um halb elf plötzlich auf 37,8 erhöht. Ssonja ringt verzweifelt die Hände. Wird man sie morgen zu ihm lassen? Wird es aber dann nicht schon zu spät sein?

Um ein Uhr nachts schreckt Ssonja ein stürmisches Klopfen an die Waggontüre auf. Man teilt ihr mit, daß es um Lew Nikolajewitsch schlecht stehe. Ssonja eilt zu dem Hause, vor dessen Türe die Journalisten stehen, eingehüllt in ihre Mäntel, um sich vor dem kalten Herbstwind zu schützen. Sie stürzt sich gegen die Tür.

„Laßt mich hinein!“ ruft sie, „laßt mich hinein!“ Aber die Tür schließt sich vor ihr.

„Die Lage ist fast hoffnungslos!“ flüstern die Journalisten.

„Hoffnungslos!“ schreit Ssonja, „dann laßt mich zu ihm! Ich will Ljowotschka sehen! Laßt mich zu ihm!“

Doch die Tür bleibt geschlossen. Mit zitternden Händen klopft sie an die Scheibe des Fensters mit dem weißen Verhänge. Keine Antwort.

Halb zwei Uhr nachts. Die Türe öffnet sich und ein Arzt teilt der Familie, die sich vor dem Hause versammelt hat, mit, daß Lew Nikolajewitsch einen neuerlichen Herzanfall erlitten hat und daß sein Puls fast vollständig aussetzt; um zwei Uhr meldet der Arzt wiederum einen sehr starken Anfall. Der Kranke hat das Bewußtsein verloren. Ssonja steht vor dem Fenster, die Stirn an die Scheibe gepreßt, und ihre Augen starren auf den Schein der Kerzen, der leise flak-kernd durch den Vorhang zu ihr dringt.

„Ljowotschka“, flüstert sie, „wo bist du? Was ist mit dir? Ruf mich zu dir, Ljowotschka.“

Aber niemand hört sie in dem Regen, der laut auf die Erde prasselt, in dem Herbststurm, der um sie braust. Endlich kann sie es nicht mehr ertragen, und weinend kehrt sie in ihren Waggon zurück. Ruhelos geht sie in dem kleinen Raum auf und ab, und von Zeit zu Zeit blickt sie durch das Fenster in das Dunkel hinaus, in dem unheimliche, schwarze Schatten hin und her wanken ...

Drei Uhr nachts. Wieder wird die ganze Familie zusammengerufen, wieder geht Ssonja zum Hause des Stationsvorstehers, wieder steht sie vor dem Fenster, und mit klopfendem Herzen folgt sie der kleinsten Bewegung der Schatten, die sich auf dem Vorhange abzeichnen. Da bringt ihr Sohn Ilja die letzten Berichte: Starker Kräftezerfall, nach ,der Morphiumeinspritzung Schlaf.

Jemand sagt zu Ssonja, sie müsse nun schlafen gehen. Verständnislos blickt sie ihn an.

„Schlafen?“ sagt sie, „während Ljowotschka stirbt?“

Man führt sie wieder in den Waggon zurück und zwingt sie mit Gewalt auf den Diwan. Weinend liegt sie da. Unsäglich quälend, unsäglich langsam schleichen die Minuten, die Viertelstunden ...

Fünf Uhr früh. Die Aerzte geben folgendes Bulletin aus:

„Außerordentliche Verschlechterung der Herztätigkeit. Lage äußerst ernst!“

Einige Male wiederholt Ssonja mit heißen, trockenen Lippen diese Worte, bevor sie deren Sinn erfaßt. Dann springt sie auf und eilt zu dem kleinen Hause, in dem ihr Ljowotschka mit dem Tode kämpft. Man läßt sie nicht ein. und wie eine Wahnsinnige läuft sie in dem dichten, weißlichgrauen Herbstnebel von der Türe zum Fenster, vom Fenster zur Türe.

„Wo ist die Gräfin Ssofja Andrejewna?“ hört sie da plötzlich rufen! „Sie darf zu Lew Nikolajewitsch! Doktor Ussow hat es erlaubt!“

Ssonja stürzt zur Tür. Sie gleitet auf dem feuchten, schlüpfrigen Boden aus, rafft sich wieder auf, der eisige Wind und die Aufregung benehmen ihr den Atem. Da ist die Tür! Die Tür, vor der sie so viele qualvolle Stunden durchlebt, die sich immer wie von Zauberhand verschlossen hat, sobald sie durch sie eintreten wollte. Und jetzt steht sie offen! Laut schluchzt Ssonja auf, aber in der nächsten Sekunde schon hat sie sich wieder in der Hand! Nein, sie wird ganz ruhig sein, sie wird ihn nicht im geringsten aufregen!

Langsam tritt sie an das Bett heran. Lew Nikolajewitsch macht keine Bewegung, kein Zucken der Wimpern über den geschlossenen Aucen, leblos liegen die Hände auf dem weißen Bettüberzug. Seine großen, unschönen Hände mjt den vielen blauen Venenknoten, die Hände, die sie so liebt! Und wie mager er geworden ist! Seine breiten, hohen Schultern sind eingesunken, und tief liegen die Augen im fleischlosen Gesicht. Der Ausdruck seines Antlitzes ist ernst und hart und unheimlich tot, ohne den gewohnten, durchdringenden, hellen Glanz der Augen.

Ssonja läßt sich auf die Knie nieder und küßt die hohe Stirn, in die sich in den letzten Tagen tiefe Furchen gegraben haben. Aber keine Bewegung läßt erkennen, daß Lew Nikolajewitsch etwas von ihrer Liebkosung verspürt. Da neigt sie sich über sein Ohr und flüstert ihm mit all ihrer grenzenlosen Liebe in der Stimme zu:

„Ljowotschka, ich war alle diese Tage in Asta-powo, in deiner Nähe. Ich liebe dich, Ljowotschka! Ich habe immer nur an dich gedacht! Ich wollte um dich sein, dir dein Leiden erleichtern! Ljowotschka, du bist alles für mich! Verzeih mir alles, Ljowotschka!“

Sie flüstert ihm Worte der Liebe und Zärtlichkeit; doch das Gesicht Lew Nikolajewitsch verharrt in seiner steinernen Stille. Nur einmal entringt sich ein ganz schwacher, kaum hörbarer Seufzer seiner Brust.

Da tritt Doktor Ussow zu Ssonja und sagt ihr leise, es wäre besser, wenn sie das Zimmer verließe, man dürfe Lew Nikolajewitsch nicht in seinem Schlafe stören. Gehorsam erhebt sie sich und begibt sich in das Nebenzimmer. Ihr Herz will ihr zerspringen vor Leid, doch sie nimmt alle ihre Kraft zusammen, um ihre Umgebung nichts davon merken zu lassen.

Da dringt ein klagendes Stöhnen aus dem Krankenzimmer; Lew Nikolajewitsch beginnt aus dem Morphiumschlafe zu erwachen. Der Arzt fühlt den Puls; sein Gesicht nimmt einen sorgenvollen Ausdruck an. Er führt ein Glas an den Mund des Kranken. Lew Nikolajewitsch trinkt einen kleinen Schluck. Jemand hält ihm eine Kerze nahe vor die Augen, er runzelt die Stirn und wendet den Kopf leicht zur Seite.

„Befeuchten Sie ihre Lippen, Lew Nikolajewitsch!“ sagt Doktor Makowitzki. Lew Nikolajewitsch nimmt wiederum einen kleinen Schluck. Die Worte seines treuen Hausarztes waren die letzten, die er aus dieser Welt vernommen hat. Nur ein ganz schwaches Atmen zeugt davon, daß noch Leben in ihm ist.

Ssonja kehrt in das Krankenzimmer zurück. Sie sieht auf den ersten Blick, daß Lew Nikolajewitsch stirbt. Aber keine Klage, kein Laut kommt von ihren Lippen. Unbeweglich, wie eine Bildsäule steht sie vor dem Bette ihres Mannes.

„Das erste Aussetzen!“ sagt der Arzt, der die Atemtätigkeit des Sterbenden beobachtet.

„Das zweite Aussetzen!“ sagt er wieder, mit einer Stimme, die Ssonja aus einer andern Welt zu kommen scheint. Mit brennenden Augen starrt sie in das Antlitz ihres geliebten Ljö-wotschka. Noch ein Atemzug, noch einer, wieder einer, ein leises Röcheln, und dann herrscht das Schweigen des Todes im Zimmer.

„Fünf Minuten nach sechs!“ ertönt feierlich die Stimme des Arztes. Doktor Makowitzki tritt zu dem Toten und schließt ihm die Augen. Da ertönt ein leises, schüchternes Klopfen an die Scheibe. Goldenweiser geht zum Fenster, öffnet die Scheibe und spricht mit schluchzender Stimme in den kalten, nebligen Herbstmorgen hinaus:

„Er ist tot!“

Ssonja hört, wie draußen jemand aufweint. Der durchdringende Pfiff eines ausfahrenden Lastenzuges zerreißt die Nacht. Dann aber kehrt eine unheimliche, furchtbare Stille in den Raum.

Mit unhörbaren Schritten schleichen die Menschen aus dem Zimmer, einer nach dem andern, bis Ssonja zuletzt allein bleibt, ganz allein mit ihrem toten Ljowotschka. Sie wirft sich auf ihn und umfängt mit ihren Armen seinen mageren, unbeweglichen Körper. Sie möchte ihm sagen, wie grenzenlos sie ihn immer geliebt hat, sie möchte ihn um Verzeihung anflehen für alles, womit sie ihn je im Leben gekränkt haben könnte, sie möchte noch einmal, noch ein einziges Mal seine Augen sehen und in ihnen seine Liebe lesen dürfen ...

Doch sein Antlitz bleibt still und unbeweglich. Ein Ausdruck tiefen, unsäglichen Leides liegt um seine bleiche Stirn ...

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