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Die Entartungen der Weltgeschichte

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Gertrud Fusseneggers jüngster Roman, „Jir-schi oder Die Flucht ins Pianino”, ist ein Flüchtlingsroman, wie auch der Klappentext bestätigt. Die Autorin verfaßte Verse zum Lob Hitlers, später distanzierte sie sich, den Zeitläuften entsprechend, öffentlich von ihrer einstigen nationalsozialistischen Gesinnung. Sie verfaßte Roman um Roman und kassierte Preis um Preis, zuletzt wurde sie im Alter von 81 Jahren mit dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet, was bekanntlich nicht ohne Proteste hingenommen wurde. Denn wer tatsächlich an Fusseneggers Läuterung glaubt, wird spätestens durch die Lektüre ihres jüngst erschienenen Romans Zweifel bekommen.

Zum Inhalt: Ein Schriftsteller erzählt das Leben eines ihm bekannten Mannes, die parallel dazu berichteten historischen Ereignisse wirken dabei als Katalysator auf den Fortgang der Handlung. Jirschi Ronhard, der Protagonist, wurde zur Jahrhundertwende in Durnov (Böhmen) als jüngstes von sechs Kindern geboren. Bereits in früher Kindheit gehört das Messe-Lesen zu den liebsten Spielen des kleinen Jirschi, der sonntäglich heimlich der Heiligen Messe beiwohnt, denn seine Familie ist nicht sehr gläubig. Die Handlung entwickelt sich geradlinig, unter strenger Einhaltung des chronologischen Ablaufs der Ereignisse.

Nach der Matura wird Jirschi Soldat, erwirbt nach seinem Militärdienst das Gesellenpatent für Klavierbau, übernimmt die Pianinofabrik seiner Eltern. Von den Kommunisten wird Jirschi als Fabriksbesitzer festgenommen, seine Verlobung mit einer jungen Schauspielerin zerbricht, Jirschi flieht aus seiner Heimat, kommt nach Australien, wo er sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchschlägt (etwa mit dem Schlachten von Kaninchen). Eine Zeitungsnotiz über die Frau des Präsidenten Eisenhower als „Mutter der Nation” läßt ihn in Amerika um Asyl ansuchen. Einen Klosterurlaub dehnt Jirschi immer länger aus (er arbeitet mit den Con-fratres) bis diese ihm in Rom sein Theologiestudium ermöglichen.

Als Pfarrer kehrt er nach Amerika zurück und scheitert in seiner Gemeinde in Texas. Als der Vortrag eines ehemaligen KZ-Insassen einen Selbstmordversuch eines deutschen Emigranten zur Folge hat, beschränkt sich Jirschi auf die Rolle des Beobachters. Als er endlich wieder bei einem Fest ein Pianino für die Pfarre auftreibt, entgeht ihm eine Bauferei mit blutigem Ausgang, er will nur noch musizieren.

Der Einmarsch der Russen hindert ihn an der Rückkehr nach Böhmen. Wenige Jahre vor der Wende läßt er sich nach Osterreich an die böhmische Grenze versetzen, um seiner Heimat wenigstens näher zu sein.

1989 darf er sein Land wieder betreten. In der Wohnung seiner ehemaligen Verlobten, sie ist verstorben, entdeckt er wieder ein Pianino aus seiner Firma.

Was anfänglich noch wie eine harmlose Geschichte anmutet, wird jedoch jäh vom Kommentar der Autorin unterbrochen: „Warum nicht gleich Weltgeschichte? In Böhmen hat auch Lokales die Tendenz, zur Weltgeschichte zu entarten”. Entarten? Die Gründung der Tschechoslowakei als Entartung zur Weltgeschichte, die Gründung eines Staates, in dem nicht alle die gleiche Sprache sprechen: „Viele reden slowakisch, das ist eine verwandte Sprache. Andere reden ungarisch, ein Häufchen polnisch, doch drei Millionen reden deutsch. Deutsch: das war lange Jahrhunderte Amtssprache in den Ländem der Wenzelskrone, das war die Sprache der verhaßten Habsburger und ihrer Armeen. Aber es war und ist die Sprache einer großen, potenten Nation, von der zwei Drittel des Staatsgebietes umgeben sind wie eine Insel von einem brandenden Meer”. Die Gründung der Tschechoslowakei also eine Entartung zur Weltgeschichte?

Einem rassistischen Mißverstehen wird nicht vorgebeugt

In diesem Staat „faseln” die Menschen, „trumpfen auf”, erst Hitler bricht diesen Stolz: „[...] es dauert nicht lange, bis der ganze große Schinken verschluckt ist, nicht länger als vom Oktober bis ins Frühjahr. Im märzlichen Schneegestöber marschiert die Deutsche Wehrmacht ins böhmische Kernland ein. [...] diesmal hat Hitler allein gehandelt”.

Ebenso werden mit Selbstverständlichkeit die Deportationen von Juden hingenommen: „In Durnov passiert nicht viel. Nur die wenigen Juden, die hier lebten, sind über Nacht verschwunden”. Man könnte diesen Satz vielleicht mit sehr viel Wohlwollen auch als Kritik an der Gleichgültigkeit dieser Umgebung lesen. Aber dann müßte das Entsetzen über das Geschehene doch an anderer Stelle deutlich zum Ausdruck kommen. Dies ist nicht der Fall.

Detailgetreuer wird das Schlachten von Kaninchen während Jirschis Aufenthalt in Australien dargestellt, das aber gerechtfertigt scheint: „Wie jedermann weiß, ist das Kaninchen eine Landplage. Es ist kein uraustralisches Tier. [... ] Doch ist es vor hundert Jahren aus Unvorsicht wie eine Seuche eingeschleppt worden. [...] daß es den Kontinent milliardenfach bevölkert und ihn schon längst kahlgefressen hätte, wenn es nicht fast ebenso milliardenfach umgebracht und abgeschafft würde”. Nur zu leicht läßt sich dieses Bild auch auf den Umgang der Nazis mit den Juden projizieren, liest man wenige Seiten später vom Abschuß der Aborigines, die von einer deutschen Figur als „halbe Viecher” bezeichnet werden und von denen erzählt wird: „Wie dann die Weißen gekommen sind, da haben sie Jagd gemacht, bis in unser Jahrhundert war der Abschuß freigegeben, wie auf Kaninchen.”

Sätze können natürlich auch als kritisches Porträt rassistischen Denkens gelesen werden. Aber sie können auch rassistisch gelesen werden, und einem solchen Verstehen, oder Mißverstehen, wird nicht vorgebeugt. Ein Buch für jedermann?

Gerade der Erfolg dieser Autorin steht exemplarisch für eine Zeitatmosphäre, in der eine allzu kritische Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft unterblieb, die vor dem Vergessen warnt, und in der Schriftsteller wie Hans Lebert oder der jüdische, selbst betroffene Albert Drach jahrzehntelang verdrängt wurden.

Gertrud Fussenegger übrigens trat aus der Jury des Grillparzer-Preises aus, als Hans Lebert 1992 damit ausgezeichnet wurde. Dieses Verhalten macht es der Bezensentin unmöglich, die ambivalent anmutenden Passagen in Fusseneggers Boman als eindeutige Absage an Unmenschlichkeit und Verdrängung zu verstehen. Ein schlechtes Gewissen provoziert dieser Boman im Gedenkjahr 1995 jedenfalls bestimmt nicht.

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