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Die Weltachse oder: Der Tanz um den Maibaum

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Die Anstrengung war dem siebenjährigen Buben ins Gesicht geschrieben. Mit aller Kraft mühte sich der für sein Alter etwas zu klein Gewachsene, hinauf zu kommen, wenigstens bis zum Bing, an” dem kleine Überraschungspäckchen hingen! Die glatte, eingeseifte „Haut” der geschälten Fichte schien all seine Bemühungen zunichte zu machen. Johlend standen einige seiner Freunde und wohl auch ein paar Spötter im Kreis um den Maibaum und feuerten den kleinen Mann an. „Ich muß hinauf, ich darf mich nicht blamieren, andere Gleichaltrige haben es auch geschafft!” - so zuckte es ihm wahrscheinlich durchs Gemüt. Er gab sein Letztes -doch es nützte nichts. Etliche Meter, aber doch schon in gefährlicher Höhe, mußte der kleine Kraxler aufgeben und rutschte den Baum hinunter. Er hatte den Maibaum dieses Jahr nicht bezwungen.

Der alpenländische Brauch des „Maibaumes” hat, trotz mancher politischer Uberlagerung,, seinen archaischen (urtümlichen) und faszinierenden Charakter nicht verloren. Mitten in den durchaus religiösen Volksbräuchen nach Ostern steht der, fast rituell, geschlagene Baum. Mit geschältem Stamm ist er fest eingerammt in den Boden und bildet dort für manche Stunden das „neu” errichtete Zentrum eines Dorfes, um das sich alles dreht. Segen soll er bringen für das Dorf, Fruchtbarkeit für die Felder - so M. Maierbrugger in seinem Buch „Lebendiges Brauchtum in Kärnten”. Als Attraktion für jung und alt hängt in schwindelnder Höhe ein Bing um den Baum. Wer den durchsteigt, ergreift die Geschenke von „oben”.

Welche Bedeutung dem frisch aufgestellten Baum zugesprochen wird, ersieht man daraus, daß er in der ersten Nacht streng bewacht wird. Denn wenn der Baum, oder nur der Wipfel von „Freunden” aus den Nachbardörfern abgesägt wird, dann droht dem Dorf selbst das Ausbleiben von Segen und Fruchtbarkeit und das Gespött der Nachbarn. Wer aber als Maibaum-Dieb auf frischer Tat ertappt wird, dem ergeht es übel, denn dies ist Sakral-Spionage, ist ein Anschlag auf die Dorfseele selbst.

Wie in so vielen Angelegenheiten haben wir uns heute an unsere eigenen Kulturgüter sehr gewöhnt. Nur wenn ein Brauch vom Aussterben bedroht ist, dann werden die Volkskundler aktiv und sind bemüht um eine Bewahrung. Für viele ist der Kult um den Maibaum etwas Fremdes oder eben nichts Besonderes, nichts, das es zu entdecken gilt.

Mysteriös wird es aber dann, wenn man plötzlich bei anderen Kulturen der weiten Welt auf genau den selben Brauch stößt. Indianer Nordamerikas, schamanistische Stämme in Südamerika, ebenso in Nord- und Zentralasien, Völker in Ozeanien und im Nahen Osten und sogar Gebiete in Australien und Afrika kennen eine Art „Mai-baum”.

Der heilige Pfahl, der vom Religionswissenschaftler Mircae Eliade als rituelle Weltenachse, als Axis mundi, bezeichnet wird, ist dort voller kosmischer Symbole. Um ihn herum finden Tänze und Bi-tuale statt, er ist die Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde, an ihm steigen die Gebete hinauf zu den Göttern und mit ihnen gemeinsam Kandidaten für Initiationskulte; denn wer oben angekommen ist, verkehrt mit dem Himmlischen und bringt übernatürliche Erfahrungen (Geschenke) mit. Er ist dann eingeweiht! Diese Pfähle und Bäume spielen in der Kosmologie und Mythologie vieler Stämme eine große Bolle. Sie bilden alljährlich eine Mitte, eine Achse, um die herum sich der Mensch, dieWeltunddie „Himmlischen” zu drehen beginnen.

Manche, die diesen religionswissenschaftlichen Vergleich nicht kennen und die hierzulande beim Maibaumaufstellen dabei sind, ergreift die archetypische Kraft dieses Brauches. Der Baum stellt eine Verbindung zwischen Himmel und Erde her, oben im Wipfel sind „Geschenke”, wer, wie unser siebenjähriger Kraxler, nicht den Bing durchsteigt, ist noch nicht „reif”, noch nicht anerkannt.

So stellt der Baum dort, wo sonst Alltag herrscht, einen „heiligen”, besonderen Bezirk her, er gibt Mitte. Und wo so kraftvoll eine urtümliche Achse, eine Mitte wirkt, da findet auch der moderne, Mensch Zeit zum kurzen Verweilen. Von dort, wo der Baum in die Erde gerammt ist, gleitet der Blick nach oben, bis hinauf in die Sphären des Wipfels und verharrt dort wie nach etwas suchend. Denn eine unbewußte Erinnerung an die Existenz des Himmels bleibt auch dann erhalten, wenn die himmlischen Wesen in Vergessenheit geraten sind.

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