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Es hat auch seine Nachteile...

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Als charakteristische Beispiele modernen russischen Feuilletonismus seien hier zwei Kurzgeschichten des Leningrader Schriftstellers Michail Sostschenko wiedergegeben, der als der Repräsentant eines literarischen Typus angesehen werden kann. Die Ironie, die schon zu den häufigen Merkmalen der klassischen russischen Literatur .gehört, ist in diesen und vielen anderen ähnlichen Skizzen aus dem heutigen russischen Leben bis zum beißenden Sarkasmus verschärft! Kritik, Zweifel, Pessimismus quillt aus diesen realistischen Kleinschöpfungen. Man könnte von Spiegelungen des modernen russischen Lebens und Denkens reden. Sostschenko sagt von sich, er „parodiere nur einen von ihm erdachten Proletarierschriftsteller, der in gegenwärtiger Zeit bei den herrschenden Lebensbedingungen existieren könnte“. — Vielleicht hat er es für geraten gehalten, sich ein wenig zu decken. Die Kritik, aber nicht ihre absolute Unge-fährlichkeit, gehört zu dem System des heutigen Rußland.

Die beiden nachfolgenden Beispiele stammen aus der im R o w o h 11-Verlag, Stuttgart-Berlin, erschienenen Sammlung Sowjet-russischer Satiren, „Schlaf schneller, Genosse“.

Die kleine Sommererholung

Eine eigene kleine Wohnung zu besitzen, ist bei uns nicht zeitgemäß. Man wohnt einträchtig in der Kommunalwohnung. Da ist man immer unter Leuten. Man kann sich aussprechen. Rat holen. Und sich mal ausraufenl

Gewiß, es hat auch seine Nachteile. Zum Beispiel macht das elektrische Licht einige Schwierigkeiten. Man weiß nicht, wie man miteinander abrechnen soll.

Freilich, später einmal, wenn unsere Industrie erst ihre ganze Meisterschaft zeigen wird — dann wird man jedem Mieter in jede Ecke meinetwegen auch zwei Zähler' hinstellen können. Dann können die Zähler den verbrauchten Strom bestimmen. Und dann erst wird natürlich das Leben in unseren Wohnungen zum strahlenden Sonnenschein werden. Einstweilen aber haben wir nur ununterbrochen Schwierigkeiten!

Zum Beispiel sind bei uns neun Familien. Aber nur eine Lichtleitung! Ein Zähler! Am Monatsende muß man zur Abrechnung antreten. Und dabei entstehen dann natürlich große Mißverständnisse — und manchmal auch Mord und Totschlag!

Ihr werdet sagen: „Berechnet nach den Lämpchen!“ Nun gut, nach den Lämpchen. Ein einsichtiger Mieter zündet sein Lämpchen vielleicht für fünf Minuten an. Um sich auszuziehen oder einen Floh zu fangen. Ein zweiter Mieter aber ißt da irgend etwas bis zwölf Uhr nachts bei Beleuchtung. Und will das Licht nicht löschen. Obgleich er keine Muster zu zeichnen hat. Als dritter findet sich da zweifelsohne so ein Intelligenzler, der buchstäblich bis ein Uhr nachts oder auch länger ins Büchlein schaut und keine Rücksicht auf die Allgemeinheit nimmt. Ja, vielleicht vertauscht er sogar das Lämpchen gegen ein helleres. Und liest Algebra wie am lichten Tage! Oder vielleicht kocht, verkrochen in seiner Bärenhöhle, eben dieser Intelligenzler auf dem elektrischen

Kocher Teewasser oder Nudeln. Das muß man doch verstehen!

Einen Mieter hatten wir bei uns, einen Lastträger — der hat aus diesem Grunde den Verstand verloren. Er hörte auf zu schlafen und suchte nur noch herauszubekommen, wer von den Mietern in der Nacht Algebra liest und wer auf dem Kocher Landesprodukte warm macht. Nachdem er den Verstand verloren hatte, bekam ein Verwandter von ihm das Zimmer. Und da begannen erst die Lichtorgien!

Jeden Monat belief sich unsere Lichtrechnung laut Zähler auf — nun sagen wir mal — nicht mehr als zwölf ganze Rubel. Nun, im schlimmsten Falle auf dreizehn. Und das natürlich bei der Kontrolle des Mieters, der den Verstand verlor. Die Kontrolle hatte er gut durchgeführt. Er schlief buchstäblich keine Nacht und machte alle fünf Minuten eine Revision. Ging bald hier, bald da hinein. Und drohte immer, den mit dem Beil totzuschlagen, bei dem er einen Uberverbrauch feststellen würde. Es ist nur zum Verwundern, daß die andern Mieter bei einem solchen Leben nicht auch noch den Verstand verloren!

Also hatten wir im Monat nicht mehr als zwölf Rubel zu bezahlen. Und plötzlich haben wir sechzehn! Welcher Hund hat da so eine Menge aufgedreht? Oder ist es ein Kochtopf, ein Heizkissen, oder sonst noch was?

Wir schimpften, schimpften, aber bezahlten.

Nach einem Monat haben wir wiederum sechzehn!

Die ehrlichen Mieter sagten gleich: „Wir schränken uns wie verrückt ein, und die andern denken gar nicht daran, den Strom zu sparen. Also werden auch wir nicht mehr sparen!“

Nach einem Monat hatten wir laut Zähler neunzehn!

Die Mieter stöhnten, aber zahlten dennoch! Und legen weiter los. Löschen das Licht überhaupt nicht mehr. Und lesen Algebra. Und brennen die elektrischen Kocher.

Nach einem weiteren Monat waren es sechsundzwanzig Rubel! Mit einem Wort, als wir den Zähler auf achtunddreißig hinaufgetrieben hatten, mußte der Strom gesperrt werden. Alle weigerten sich, zu zahlen. Nur so ein Intelligenzler bat und flehte und klammerte sich an die elektrische Leitung — aber mit dem wurde erst gar nicht abgerechnet. Man schnitt einfach die Leitung ab.

Gewiß, das tat man nur vorübergehend. Keiner ist ja gegen die Elektrifizierung. In der allgemeinen Versammlung hat man es also auch erklärt: sozusagen, keiner ist dagegen, und in Zukunft werden wir uns schon dafür verwenden und uns dem Leitungsnetz wieder anschließen. Vorläufig geht's auch

1386 m so ganz gut! Es geht ohnehin dem Frühling zu. Es ist hell. Und dann kommt der Sommer. Die Vöglein singen. Und das Licht ist ganz überflüssig! Man hat ja keine Muster zu zeichnen ... Nun, aber zum Winter, da werden wir nachher schon sehen... Im Winter werden wir vielleicht den elektrischen Streit wieder aufnehmen. Aber vorerst müssen wir uns erholenl

Verkehrte Welt

Der Lehrer Iwan Michailowitsch Trupi-kow zupfte an seinem abgetragenen Bratenrock, hüstelte hinter die vorgehaltene Hand und ging dann mit zögernden Schritten in die Klasse.

„Sie haben sich' wieder verspätet! sagte der Klassenordner.

Iwan Michailowitsch wurde verlegen, und ehrerbietig die Klasse grüßend, sagte er leise: „Das ist die Trambahn, wissen Sie... das ist, weil ich die Trambahn verfehlt habe ...“

Er setzte sich zaghaft auf den Stuhlrand und kniff die Augen zu. Merkwürdige Erinnerungen drängten sich seinem Gedächtnis auf. Da betritt er, der Lehrer der Geschichte, die Klasse, und alle Schüler stehen auf. Und er, Iwan Michailowitsch Trupikow, geht mit festen Schritten zum Katheder, öffnet das Klassenbuch, und... oh, eine ungewöhnliche Stille breitete sich dann über die ganze Klasse. Und dann schaute Trupikow ganz streng ins Klassenbuch und rief den Namen: „Semenow, Nikolai!“

Der Lehrer fuhr auf, öffnete die Augen und sagte leise: „Semenow ...“

„Was ist los?“ fragte der Schüler, ein Album mit Marken anschauend.

„Nichts, nichts!“ sagte der Lehrer. „Das meinte ich nur so. Bitte messen Sie dem keine Bedeutung bei!“

Iwan Michailowitsch ging durch die Klasse. „Bitte um Entschuldigung, junge Genossen“, sagte er, „für heute hatten Sie auf... das heißt, ich wollte sagen ... es war Ihnen vorgeschlagen, die Reformen des vormaligen Alexander I. durchzulesen ... Ich ... glauben Sie es mir, junge Genossen..., spreche über die Kaiser mit Verachtung ...“

In der Klasse erhob sich ein Gelächter.

„Das meine ich nur so ...“, sagte der Lehrer. „Das ist... ich regte mich sehr auf... junge Genossen ... Legen Sie meine Worte nicht verkehrt aus... Ich bestehe gar nicht darauf. Ich bin ganz froh, wenn Sie nicht erzählen wollen, Genossen...“

„Ja schweig doch wenigstens eine Minute!“ ließ sich eine Stimme vernehmen. „Plappert wie eine Elster!“

„Ich s,chweige ... schweige schon ...“, sagte der Lehrer. „Ich ... will nur ganz leise beim jungen Genossen Semetschkin anfragen, welche politischen Neuigkeiten er der Zeitung ,Prawda' entnommen hat?“

Semetschkin legte die Zeitung auf die Seite und sagte: „Was soll das heißen? Eine Anspielung? Ich soll wohl die Zeitung wegtun? Diese Zeitung wegtun? Ja wissen Sie denn... ja dafür kann ich Sie...“

„Nichts... nichts. Bei Gott, nichts! Das heißt... von Gott habe ich gar nicht gesprochen. Legen Sie das, bitte, nicht verkehrt aus!“

Aufgeregt begann der Lehrer in der Klasse auf und ab zu gehen.

„Ja, flitz mir doch nicht dauernd vor den Augen herum!“ sagte jemand.

„Stell dich an die Tafel!“

Der Lehrer stellte sich an die Tafel und begann, sich ins Tafeltuch schneuzend, leise zu weinen.

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