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FranSÄJosefStraße 6

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Diese Geschichte, die man für eine Erfindung halten könnte, hat sich genau so zugetragen, wie ich es berichte.

Bekanntlich spielt sich das Münchner Leben in „Kreisen“ ab, und damals — 1940 bis 1942 — waren die markantesten Figuren meines Kreises Theodor Haecker und der Doktor S., welche beide nach der Machtergreifung zeitweilig gefangengesetzt worden waren. Wir trafen uns täglich im Hofgartencafe und hatten sogar zwei Nazispitzel, was wir dadurch erkannten, daß jeder dieser beiden uns insgeheim vor demanderen warnte. Dr. S. war eine kindliche, sehr sensible Gelehrtennatur. Er machte täglich seine Runde durch sämtliche Antiquariate der Stadt und kannte die politische Einstellung jedes Einwohners. „Mit dem können Sie ruhig reden: der denkt so wie wir“, lautete seine höchste Empfehlung. Natürlich verabscheute er Hitler und die Nazis. Eines Tages erzählte mir Dr. S.:

Wissen Sie, mir ist neulich was Seltsames passiert. Ich hatte einen Traum. Dabei träume ich sonst nie, das heißt vielleicht schon, doch ich habe das gleich beim Aufwachen vergessen. Diesmal aber träumte ich so intensiv, daß ich mitten in der Nacht davon aufv/achte — und sogleich nach Feder und Papier griff, um mir den Traum zu notieren.

Der aber bestand in folgendem. Ich ging auf der Ludwigstraße, in der Richtung vom Siegestor zur Feldherrnhalle. Da sah ich Hitler im Auto die Ludwigstraße herunterfahren. Doch fuhr er ganz sonderbar: er hielt bei einem Haus an, stieg aus, lief zur Tür und fragte in sichtlicher Aufregung: „Können Sie mir sagen — ist hier Franz-Josef-Straße 6?“ (Und mir kam diese sinnlose Frage im Traum ganz natürlich vor.) Die Befragten zuckten die Achseln, schüttelten den Kopf und sagten: „Nein. Das ist nicht hier.“ Dann sprang Hitler wieder in den Wagen, fuhr ein Haus weiter und lief mit derselben Frage wiederum zur Tür, um wieder dieselbe Antwort zu bekommen. So ging das fort und fort; er kam mir immer näher. Endlich ließ er den Wagen stehen und ging jetzt auf dem Trottoir. Jeden Begegneten hielt er an und fragte ihn: „Ich bitte, sagen Sie mir doch — wo ist Franz-Josef-Straße 6?“ Und jeder Passant zuckte die Achseln und bedauerte, keine Auskunft geben zu können. — Jetzt wird er gleich fragen, dachte ich.

Und richtig, jetzt stand er dicht vor mir. Mit einem gräßlich angstvollen Ausdruck. Mit beiden Händen strich er flehend an meinem Anzug herunter und keuchte hervor: „Ach bitte — es ist sehr dringend — ich muß es wissen — wo ist Franz-Josef-Straße 6?“

Nun ist es ja merkwürdig irrational im Traum: mein ganzes Leben lang weiß ich doch sehr gut, daß die Franz-Josef-Straße ein paar hundert Meter weit vom Siegestor in Schwabing liegt; von dort, wo wir standen, in zehn Minuten zu erreichen. Aber im Traum wußte ich es nicht. Ich schaute in seine aufgerissenen Augen und sagte höflich: „Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen da keine Auskunft geben — ich weiß nicht, wo Franz-Josef-Straße 6 ist.“

Er ließ mich stehen und lief weiter. —

Soweit der Traum. Jetzt kommt aber das Sonderbare. Ein paar Tage darauf traf ich den Professor N. mit seiner Frau und erzählte ihnen von dem Erlebnis.

Da fragte mich die Frau:

„Ja, wissen Sie denn gar nicht, was Franz- losef-Straße 6 für ein Haus ist?“

„Nein“, sagte ich. „Ich habe, offengestanden, nicht nachgeforscht, wer da wohnen könnte. So weit ging mein Glaube an diesen Traum denn doch nicht. Ich nehme an, daß es ein Miethaus ist.“

„Aber nein, Herr Doktor S. Jetzt wird die Sache spannend. Ich bin nämlich im Sacre-Cceur erzogen worden und weiß daher, daß das Münchner Haus dieses Instituts Franz-Josef-Straße 6 ist. Im Sacre-Coeur befindet sich eine Kapelle mit dem Allerheiligsten. Und die Schwestern dort haben, gerade jetzt in der Zeit der Kirchenverfolgung, den in der Tat heroischen Entschluß gefaßt, für das Seelenheil Hitlers, dieses verlorensten aller Menschen, zu beten. Sie tun es ohne Unterlaß: Tag und Nacht.“

Jetzt standen wir erstaunt da. — „Sagen Sie, bitte, Herr v. R.“, fragte Doktor S., „wie soll man sich das erklären?“

Die Sache ist allerdings sehr sonderbar. Es wird für Hitler gebetet: eine Reihe von flammenden Willen beschäftigt sich unausgesetzt mit ihm — doch nicht in den gewohnten Richtungen der Bewunderung oder des Hasses, sondern in einer ganz anderen. Und man könnte sich schon vorstellen, daß Hitlers Seele davon irgendwie, im Schlaf oder im Wachen, berührt gewesen ist, so daß sie in eine flatternde

Fledermausangst geriet, die aus dem Verlies hinaus will und überall anprallt ... Und nun sucht die verlorene Seele irgendeinen Kontakt, irgendein Gebiet, wo es mit jenen anderen reinen Seelen in Berührung kommen könnte.

Und sie findet dieses Gebiet (oder hofft es wenigstens) in der ruhig schlafenden Seele des Doktor S. Er soll sozusagen als Relais dienen. Und er wird angstvoll angegangen: „Wo, wo ist Franz-Josef-Straße 6?“ Das heißt, wo kann ich den Weg der Rettung vor dem Entsetzlichen finden? Er fragt danach, was jeder, was er selbst weiß. Denn Franz-Josef-Straße 6 ist doch offenbar Franz-Josef-Straße 6. gelegen und nirgendwo anders. Aber keiner kann ihm sagen, wo das ist.

Die Erzgestalt läuft nachts schlotternd in fremde Träume. Der innerste, zurückgedrängte Herzensvorgang eines Weltungeheuers malt sich symbolisch im Traume eines stillen Privatmannes, doch aus all dem Unbestimmten springt immer wieder eine exakte Zahl auf, die nachher mit der Realität stimmt, weil sie, die Zahl, erst den Schlüssel zum Ganzen gibt — Franz-Josef-Straße 61

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