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In England ist alles umgeIceW

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In England wird alles umgekehrt gemacht.

Auf dem europäischen Kontinent zieht sich sonntags sogar der Ärmste seinen besten Anzug an. Er will, so gut es geht, nach etwas aussehen, und im ganzen Lande herrscht fröhliches Leben und Treiben. In England hüllt sich selbst der reichste Lord oder Automobilfabrikant in die unmöglichsten Lumpen. Er rasiert sich nicht, und im ganzen Land wird Trübsal geblasen. Auf dem Kontinent gibt es ein Gesprächsthema, das vor allen andern verpönt ist — das Wetter. Wenn man in England dagegen nicht ständig den Ausspruch: „Schöner Tag heute, was?“ im Munde führt, halten einen die Leute für leicht beschränkt. Auf dem Kontinent halten die Leute die Gabel wie eine Schaufel. In England drehen sie sie herum und schieben dann alles — sogar die Erbsen — obendrauf.

Nähert sich auf dem Kontinent ein Autobus einer Bedarfshaltestelle, so zieht der Schaffner die Klingel, wenn der Chauffeur durchfahren soll. In England muß man abläuten, wenn man den Autobus anhalten will. Auf dem Kontinent beurteilt man verlaufene Katzen individuell, nach ihren jeweiligen Vorzügen, manche werden heiß geliebt, andere bloß geduldet. In England wird ihnen durchwegs höchste Verehrung zuteil, wie im alten Ägypten. Auf dem Kontinent halten die Leute auf gutes Essen; in England auf gute Tischsitten.

Auf dem Kontinent bemühen sich die Redner, nach Möglichkeit flüssig zu sprechen. In England unterziehen sie sich einer Sonderausbildung in Oxfordstammelei. Auf dem Kontinent zitieren gebildete Leute gern Aristoteles, Horaz und Montaigne, um mit ihrem Wissen zu glänzen. In England protzen nur ungebildete Menschen mit ihrem Wissen, und niemand streut Zitate von griechischen und lateinischen Schriftstellern in

die Unterhaltung ein, außer wenn er nie etwas von ihnen gelesen hat.

Auf dem Kontinent hat fast jedes Volk, ob groß oder klein, 6chon irgend-einmal proklamiert, es sei allen anderen Nationen überlegen. Die Engländer führen heroische Kriege, um diesen gefährlichen Ideen entgegenzutreten, ohne sich aber je darüber auszulassen, wem nun wirklich der Vorrang gebührt. Die Kontinentaleuropäer sind zart besaitet und leicht beleidigt. Die Engländer tragen alles mit ihrem ungemein hochentwickelten Sinn für Humor — sie sind nur dann gekränkt, wenn ihnen jemand sagt, sie hätten keinen Humor. Auf dem Kontinent besteht die Bevölkerung aus einem kleinen Prozentsatz Kriminellen und einem ebenfalls kleinen Prozentsatz von anständigen Menschen, während alles übrige einen undefinierbaren Übergangstyp zwischen beiden darstellt. In England findet man gleichfalls nur einen geringen Prozentsatz von Kriminellen — ansonsten gibt es bloß anständige Menschen. Andererseits läßt sich aber auch wieder beobachten, daß die Leute auf dem Kontinent entweder die Wahrheit sagen oder lügen. In England lügen sie kaum jemals, aber es fällt ihnen auch nicht im Traum ein, die Wahrheit zu sagen.

Viele Kontinentaleuropäer meinen, das Leben sei ein Spiel. Wenn die Engländer an Spiel denken, so meinen sie Kricket.

Als einmal über dem Kanal ein fürchterlicher Sturm tobte, sagten die Europäer: Das arme England, jetzt ist diese Insel ganz abgeschnitten. In England dagegen sagte ein Lord zum andern: „Haben Sie gehört, durch den Sturm überm Kanal ist der Kontinent seit drei Tagen isoliert.“ In England ist eben alles umgekehrt.

Aus; „Komische Leute, England und Amerika neu entdeckt.“ Paul-Zsolnay-Verlag, Wien

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