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In lenedigs Straßenbahn

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Der komische Kauz hat nämlich an diesem Hochsommertag mit 35 Grad im Schatten einen Mantel an.

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Der komische Kauz hat nämlich an diesem Hochsommertag mit 35 Grad im Schatten einen Mantel an.

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In Venedig, wo die Ufer über die Wasser treten, heißt die Straßenbahn Vaporetto und ist ein Schiff. Die Tram auf dem Canale Grande hat viele Gemeinsamkeiten mit jener in Wien, die am Donaucanale daherschwimmt. Wollte sagen, verkehrt. (Ja, verkehrt ist das richtige Wort fürs Wienerische.) Beide Vehikel halten gewisse Fahrtlinien ein. Beide verfügen über einen Fahrer und einen Schaffner.

Letzterer wird in la bella Venezia noch nicht durch Automaten und Druckknöpfe ersetzt, sondern agiert live. Er beherrscht das Lasso werfen wie ein Cowboy. Nur daß er sich nicht mit Bösewichtern, sondern sein Schiff an der nächsten Station anlegt.

Das war eine Vorinformation; jetzt folgt die Geschichte.

Am Hauptbahnhof steigt ein älterer Herr in die überfüllte Schiffstraßenbahn ein. Er dürfte gerade angekommen sein und plant offenbar, in sein Hotel zu fahren, worauf seine mitgeführten Gepäckstücke — 1. Koffer, 2. Reisetasche, 3. junge Frau — hindeuten. Er stellt alle drei in der Mitte des Vaporetto ab und bleibt neben diesen selbst stehen, den am offenen Vorderdeck sitzenden Passagieren gegenüber, Aug in Aug. Alle schauen ihn erstaunt an, außer denen, die ihre Augen niederschlagen und kichernd mit ihren Partnern tuscheln.

Der komische Kauz hat nämlich an diesem Hochsommertag mit 35 Grad im Schatten - die sich allerdings nicht auf ihn beziehen, denn er steht in der prallen Sonne — einen Mantel an!

Er kann etwas Italienisch und als deutschsprachiger Tourist ist er auch der deutschen Sprache einigermaßen mächtig — so versteht er das meiste davon, was für Gedanken seine Erscheinung auslöst. Unter anderem dringen ihm folgende Bemerkungen ans Ohr:

„Schau dir den Clown an — ein Dandy der alten Schule. Der glaubt, jetzt ist er perfekt angezogen. Kommt sich elegant vor!“

„Ach was, der alte Trottel hat überhaupt kein Blut mehr in den Adern; sieh doch, wie leichenblaß er ist - dem ist echt kalt!“

„Der Tattergreis ist doch schon zwischen 70 und dem Paradies! Als Methusalem oder wie das heißt wird man so ein Spinner!“

„Der hat sicherlich die Alzheimer Krankheit und hat vergessen, daß Sommer ist. Er weiß gar nicht, daß er einen Mantel anhat!“

„Eduard, wenn du immer nur vor dem Fernseher herumhockst, wird es dir auch bald so ergehen, wie diesem Häuflein Elend! … Und du Wolfi, wenn du nicht brav ißt, wirst du dich später einmal auch so lächerlich machen!“

Ich hielt es nicht länger aus. Meine vornehme Blässe hatte sich gewiß längst in puterrot verwandelt.

Ach ja, ich habe vergessen zu erwähnen, daß ich der alte Mantelschreck war. Beim AusSteigen aus der Eisenbahn war ich nämlich in der Tür hängengeblieben. Meine Hose wurde total zerfetzt. Zum Glück hatte ich meinen für Schlechtwetter mitgebrachten Überzieher am Arm.

Ich war schnell hineingeschlüpft, um nicht in Shorts beziehungsweise Slips oder hinter welchen Fremdwörtern sich diese Dinger auch immer verstecken, damit man die Unterhose nicht aussprechen muß, dazustehen. Ich sprang über Bord und schwamm an Land.

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