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Kindheit in Kairo

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Sie stammen aus Syrien, Istanbul, sprechen Ladino, Türkisch, Hebräisch, Französisch, Englisch und gezwungenermaßen auch Arabisch. Sie - die jüdische Großfamilie, die es zu Beginn des Jahrhunderts nach Ägypten verschlug, nachdem Großonkel Isaac in Turin den späteren König Fuad kennengelernt hatte. Ihre Geschichte erzählt der amerikanische Literaturprofessor Andre Aci-man in seinem autobiographischen Roman „Alexandria. Erinnerungen an eine versunkene Welt" auf höchst anregende Weise.

Geboren 1951, erinnert er sich an seine Kindheit in Alexandria, an gemeinsame Familienessen, Streitigkeiten, das oft mühsame Zurechtfinden in der Welt der Araber, den Krieg und die Vertreibung aus dem Kindheitsparadies am Meer. Andre ist der Sohn jüdischer Nachbarskinder, deren Mütter sich 1944 auf dem Fischmarkt von Alexandria kennengelernt haben.

Die Großväter haben einander nie richtig vertraut, denn der eine stammte aus Syrien und der andere aus Istanbul. Echte Ägypter sind sie alle nicht geworden, doch ziemlich reich in diesem Land: „Durch Fraternitis-mus, der Brüdern gibt, was Nepotismus Vettern und Enkeln gibt, erledigte sich das übrige, so daß meine anderen Onkel - Nessim, Cosimo, Lorenzo - lukrative Stellen in ägyptischen Bankhäusern erhielten. Vilis Auktionsgeschäft gedieh".

Die Weltgeschichte wird peripher wahrgenommen, nur manchmal berührt sie als Tangente die den Kreis der Familie. Erst mit der Ankunft einer entfernten Tante aus Deutschland erkennt man die Ausmaße der braunen Katastrophe auf der anderen Seite des Meeres. Tante Flora ist mit ihrer Mutter geflüchtet, nicht mehr im Gepäck, als sie tragen konnten. Plötzlich ist man im Zweiten Weltkrieg.

Einer alten Konvention folgend, versammelt sich die Familie, wenn Katastrophen drohen, im Haus der Urgroßmutter. Gemeinsam harrt man unter den Fittichen der Martri-archin auf den Ausgang. Oberstes Gesetz erscheint die Aufrechterhaltung eines normalen Lebens;

Insgesamt gab es vier solche Zusammenkünfte: zum ersten Mal, als Rommels Panzer vor Ägypten standen, 1948, weil zionistische Agenten Onkel Vilis Spionagetätigkeit entdeckt hatten (er konnte fliehen und vier Jahre später nach Alexandria

zurückkehren, wo er die Güter seines ehemaligen Förderers König Fuad versteigerte), 1956 während des Suezkrieges und zum letzten Mal 1966, als die Familie Opfer der Diktatur Präsident Nassers wurde, der die Juden enteignete und des Landes verwies.

Obwohl die Weltgeschichte die Außenregie des Familienlebens bestimmt, wird sie nie zur Hauptsache, im Mittelpunkt von Andre Äcimans Kindheitsgeschichte steht die Familie. Er überfrachtet seinen Roman nicht mit Zeitgeschichte, .er erzählt, was ihm erzählt worden ist, von den Eltern, Großeltern, Tanten, Onkeln. Doch bekommt er mehr von der Welt der Erwachsenen mit als andere Kinder, denn er ist Dolmetscher seiner tauben Mutter. Vor der Ausreise aus Ägypten erledigt er Geheimaufträge für den Vater, fast über Nacht wird er so in die Welt der Erwachsenen eingeweiht.

Durch diesen Roman lernt man auf unterhaltsame Weise eine fremde Welt kennen, die sich bald gar nicht mehr so fremd ausnimmt. Familien funktionieren überall gleich, es wird gegessen, ausgegangen, gefeiert. Zentrales Ereignis ist die Feier des hundertsten Geburtstages der Urgroßmutter, doch auch hier dringt die Weltgeschichte ein: Onkel Vili muß als erster das Land verlassen, denn man hat entdeckt, daß er heimlich Geld ins Ausland geschafft hat. Ab da zeichnet sich das Ende ab. Anonyme Telefonanrufe stören das Familienleben, doch nie das familiäre Gleichgewicht. Schließlich folgt die Enteignung: „,Für uns ist es jetzt aus.' Es -das bedeutete unser gewohntes Leben, eine Epoche, die erste Reise eines jungen Mannes namens Isaac im Jahre 1905 nach Ägypten, ins Ungewisse, unsere Freunde, die Strände, alles, was ich kannte, Om Ramadan, Roxa-ne, Abdaou, Guaven, das laute Klappern von Tricktracksteinen, die rachsüchtig auf das Brett geworfen wurden, gebratene Auberginen an spätsommerlichen Morgen, die Stimme von Radio Israel an verregneten Abenden und die schläfrige Atmosphäre alexandrinischer Sonntage, an denen man von Kino zu Kino zog ..."

Acimans Roman ist spannend, packt bis zur letzten Zeile, zieht den Leser in eine Welt, die es nur noch in dieser meisterhaften Prosa gibt, und die doch einmal Leben war.

DAMALS IN ALEXANDRIA. ERINNERUNG AN EINE VERSUNKENE WELT.

■ Roman von Andre Aciman llanser I erlag, München i996. 377 Seiten, geb., öS333,-

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