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Lampenfieber

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Fünf Jahre hatte ich nicht Theater gespielt, sondern an meinem Schreibtisch gesessen. Ich lebte so gemütlich! Da wurde ich telephonisch angerufen: „Wollen Sie für den Schauspieler X einspringen? Probe heute vormittag, halb zwölf, Auftreten heute abend.“ — „Gern“, sagte ich.

Als ich die Eisentreppe zur halbdunklen Hinterbühne hinabstieg, angezogen wie ein Narr, war ich bereits recht traurig. Ich wußte ja nicht, daß mir das schwerste Los in puncto Lampenfieber zugefallen war: erstens in eine bereits fertige Vorstellung einspringen; zweitens als Neuling und drittens gleich mit einem großen Auftrittsgang auf die Bühne!

Leise ging ich hinter den Holzlatten der Kulissen auf und ab, denn hier war alles totenstill gegen das Geschrei in der Garderobe.

Ich dachte an den riesigen Mechanismus des Stückes, und jetzt kam alles darauf an, daß ich diese Gänge und Worte richtig brachte, sonst — ja, wps sonst? —, sonst brach alles zusammen ... ! Ich legte mein Ohr an die Kulisse: um Himmels willen, mein Stichwort kam immer näher, immer näher. Mit klappernden Zähnen sagte ich mir Fetzen meiner Rolle auf ...

Was war das? Ein Wort fehlte! Ich riß das Textpapierchen aus der Tasche und las, und verstand kein Wort ... Und derweil redeten die da auf der Bühne immer weiter, nur ein Erdbeben konnte mich noch . Nein, diese Qual kann nur empfinden, wer sie durchgemacht hat! Ich beabsichtigte ganz ernsthaft, mir gleich nach der Szene das Leben zu nehmen. Und dazu in der Zwerchfellgegend ein Gefühl, das an die Wurzel meiner Existenz griff.

Der Sekundenzeiger schritt ungeheuer auf mich zu! Und wieder riß ich meinen Text aus der Tasche, während die Angst mir mit Katzenkrallen übers Herz fuhr ... Dann war plötzlich das Stichwort da.

Der Inspizient packte mich und stieß mich ins Helle, auf die Bühne! (Seitdem weiß ich, daß Rennpferde im Finish die Peitsche als Erlösung empfinden.) Was ich dort tat, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls guckten mir aus dem Dunkel Millionen rosa Kohlköpfe zu, gleich hinter den

Lichtern. Dabei soll ich nicht einmal schlecht gewesen sein. Jedenfalls brachte ich meinen Part hinter mich und setzte mich wie ein zu Lebenslänglich Begnadeter.

Doch seltsam, gerade in dieser Vorstellung geschah es, daß es wirklich nicht weiterging. Nicht meinetwegen, ich hatte ja bloß noch „stummes Spiel“, sondern überhaupt. Ich hörte die Heldin dem Helden zuflüstern: „Um Gottes willen, retten Sie mich, ich kann das Lied wegen Grippe nicht singen. Ich k a n n ’ s nicht!“

Darauf tat der Held etwas sehr Mutiges und Höfliches. Er machte einen „Sprung“, das heißt er sprach sogleich den Text, der nach jenem Liede kam. Nun gut, alle machten den Sprung mit, alle sprachen normal weiter. Nur hatte man eines nicht überlegt — daß jenes Lied mit seinem Drum und Dran zehn Spielminuten dauerte, die jetzt ausgefallen waren!

Der Clou jener Szene aber war das Hereinkommen eines neuen Gastes. (Es' war eine Räuberhochzeit, und der Gast der Polizeipräsident.) Und dieser mußte jetzt also um zehn Minuten f rüher zur Stelle sein zu seinem Auftritt. Der Inspizient suchte ihn mit fliegender Lunge, durch alle Garderoben, und konnte ihn nicht finden!

Und jetzt stelle man sich die Situation vor. Normalerweise mußte es so gehen: Der Räuberaufpasser vor der Tür schreit entsetzt in die Bühne hinein: „Der Polizeipräsident!“ Alle Räuber verkriechen sich angstvoll unter Tisch und Sofa. Nur der Held bleibt aufrecht — und nun stampft der goldbordierte Würdenträger dramatisch auf die Szene.

Aber der „Aufpasser“ vor der Tür war ebenfalls nicht zur Stelle; auch er hatte nichts von dem Sprung erfahren ...

Doch von alledem wußten wir auf der Bühne nichts; der Inspizient wird es schon machen, dachten wir. Nun mußte der Meldeschrei des Aufpassers kommen. Nichts kam. Das war entsetzlich. Plötzlich sehe ich, wie der Held improvise zur Tür geht, sie aufreißt und nun selber schreit: „Der Polizeipräsident!“

Darauf verkriechen sich die Räuber ordnungsgemäß unter den Möbeln. Der Held steht und wartet. Keiner kommt. Auf einmal fängt Į er laut zu lachen an. Und ruft den unter den Möbeln versteckten Räubern zu: „Ich hab’ euch ja nur schrecken wollen — hab’ ja nur sehen wollen, was ihr machen würdet, wenn der Polizeipräsident wirklich käme! Ihr seid mir mutige Burschen, ihr feiges Pack ... !“

Die (in der Tat) Verängstigten kommen langsam hinter Tisch und Sofa hervor — und jetzt, geht der Held wiederum zur Tür. (Er denkt: jetzt muß der Kerl, der Polizeipräsident, doch schon wirklich da sein.) Und reißt die Tür dramatisch auf und schreit wieder: „Der Polizeipräsident!"

(Doch hinten ist alles leer, schwarz und gleichgültig — wie ein Ozean, wenn das Schiff versinkt.)

Und wieder verkriechen sich die Räuber auf das Stichwort. Die Million rosa Kohlköpfe schaut noch immer regungslos zu. Und wieder improvisiert der Held mit übermenschlicher Anstrengung: „Ganz gut, ganz gut ... Diesmal ging’s mit dem Verkriechen schon besser. Ihr kommt allmählich-in Uebung, meine Knaben.“ Jetzt geht er zum drittenmal zur Tür, der Held. Ich sitze derweil still und denke: „Wann wird der Vorhang fallen müssen, wann? — So kann es doch nicht weitergehen! Und der Held — was in ihm vorging, weiß ich nicht, aber es muß so was wie Lampenfieber gewesen sein — reißt zum drittenmal die Tür auf und schreit: „Der Polizeipräsident!“

Und, o Wunder, gleich darauf stürzt wirklich der Polizeipräsident, noch hastig an der Uniform knöpfend, heran — und tritt stampfend zur Tür herein!

Die Szene war gerettet. Nein, sie war sogar besser geworden. Denn die Million rosa Kohlköpfe spendete einen Lacher, was sie sonst an der Stelle nie getan hatten. Und das Beste: keiner unten im Publikum hat von alledem auch nur das Geringste bemerkt.

Das ist so ungefähr Lampenfieber.

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