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Leb' schneller, Zeitgenosse

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Wir haben Uhren, Präzisionsuhren und Chronometer. Wir haben Stundenpläne, Fahrpläne und Fünfjahrespläne. Wir haben ganz genaue Zeit im Rundfunk, über das Telephon und an den Zifferblättern der ferngesteuerten Normaluhren. Trotzdem haben wir keine Zeit.

Das ist erstaunlich. Denn es ist ja nicht nur so, daß wir dank der Präzisionsuhren und der Fahrpläne eine viel genauere Uebersicht über unseren Lebensablauf erhalten können, sondern wir raffen ja auch die Lebensäußerungen selbst so sehr wie nur irgend möglich zusammen. Konzentrate aller Art bestimmen in ständig noch zunehmendem Ausmaß nicht nur unser körperliches, sondern auch unser psychisches Leben.

Von einer langsam dahinwelkenden Generation wissen wir oder glauben wir zu wissen, daß sie tagaus, tagein in Kaffeehäusern verbrachte und sich dort müßigem Geplauder oder müßiger Lektüre hingab. Heute sind an die Stelle der schleißig werdenden Plüschsofabänke in den „Cafes“ die pseudosachlichen chromfunkelnden Espresso-Lokale getreten, wo die Sitzgelegenheiten so gehalten sind, daß sich jeder Gast, der länger als zehn Minuten verweilt, nicht nur als Tagedieb vorkommt, sondern sich auch höchst ungemütlich fühlt und daher eilends zahlt und geht.

Auch das Photographieren wird zu langsam, obwohl es — zumindest was das Tempo darstellt — immer schon einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der Porträtmalerei darstellte. Heute ist man jedoch bereits zu ungeduldig, eine halbe Woche lang an einem Streifen herum-zuknipsen und dann noch geschlagene 24 bis 48 Stunden auf die fertigen Bilder zu warten. Nein, wir haben die Polaroid-Kamera ersonnen, die binnen einer Minute das fertig entwickelte Bild liefert.

Um unser Kulturleben wiederum sind die verschiedenartigsten „Digests“ rührend bemüht, die aus dickbändigen Romanen den Fleischextrakt herausziehen — so wie einst Peter Altenberg von seinen Feuilletons sagte: „wie das Rind im Liebig-Tiegel — von allem Ueberflüssigen befreit“.

Vorbei die Zeiten des „Schreibers“ und des Abschreibens. Kein Kratzen mit dem Gänsekiel, kein Löschsand. Elektrische Schreibmaschine und fünf Durchschläge — Vorbei auch die Zeiten des Kunststudiums in fremden Landen. Zwar stehen vor den berühmtesten Gemälden in den großen Museen Sitzbänke für andächtige Betrachter, aber ihr Hauptzweck ist es, auf diskrete Weise den eilenden Fremdling darauf aufmerksam zu machen, daß er auf diese Wand einen Blick werfen muß, um daheim souverän sagen zu können: „Ach ja, Uffizien: Botticelli, Geburt der Dingsda, der Schönheitskönigin, der Venus. Sehr schön. Gar nicht so vollschlank, wie sonst die alten Holländer.“

Von den Erfolgen der Industrialisierung und der Automatisierung wollen wir gar nicht erst reden. In der Zeit, in der einst ein Kunstschlosserlehrling sein Gesellenstück anfertigte, verlassen heute 253.746 Achtzylinderwagen das Werk — komplett mit Servogetriebe und Flüssigkeitskupplung. Der Technik verdanken wir unseren Lebensstandard: den Trockenrasierer und den Eiskasten, die Nylonstrümpfe und den Kugelschreiber.

Aber was verdanken wir all den Konzentraten, mit denen wir unsere Arbeitszeit zu verkürzen und unsere Freizeit zu verlängern trachten? Was tun wir mit den Sekunden, Minuten und Stunden, die wir mit Hilfe von Konservendosen und Espresso, von Schreibmaschine und Neskaffee, von Digests und Blitz-Ferngesprächen gewinnen?

Wo gehen sie hin, all diese hübschen wertvollen Minuten, die mit jeder Lohnerhöhung und Gehaltsnachziehung kostbarer werden? Zunächst einmal fließen sie hinzu zum Teich der sogenannten Freizeit, der langsam aber stetig anwächst und in dem wir zuweilen schon bis zum Hals stehen.

Ja, ja, ich weiß schon: natürlich ist auch die 40-Stunden-Woche noch zu lang. Auch ich möchte nur 30, ehrlich gesagt, vielleicht sogar nur 20 Stunden arbeiten müssen. Aber was die Freizeit anlangt, so sieht sie sich zuweilen wie ein Danaergeschenk an. Nietzsche hat einmal gesagt, man dürfe nicht fragen, frei wovon, sondern müsse fragen, frei wozu? Man kann das ruhig abwandeln zu dem Fragenpaar: Freizeit wovon? Freizeit wofür?!

Nur eines hat uns bis jetzt über dieses überaus schwierige Problem einigermaßen hinweggeholfen: die Tatsache, daß ein großer Teil dieser so mühsam aus Minuten und Viertelstunden zusammengeflickten Freizeit sich in geradezu unheimlicher Weise in Nichts auflöst. Denn ein großer Teil dieser sogenannten Freizeit geht auf im Warten. Das Leben wird zu einem überdimensionalen Kasernenbetrieb. Nicht nur wegen der wachsenden Reglementierung, sondern wegen des in aller Welt gültigen soldatischen Mottos: „Hurry up and wait.“ — „Erst schnell, schnell — dann warten.“

Wir warten. Auf die Straßenbahn. Beim Zahnarzt. An der Tankstelle. Beim Finanzamt. Vor dem Theaterkartenschalter. An der Garderobe. Auf einem frei werdenden Tennisplatz. Auf dem Bahnhof. Beim Schmierservice. Im Friseursalon. An der Normaluhr. Auf den Autohusanschluß. Ueber dem Flugplatz auf die Landeerlaubnis. Auf Godot.

Leb' schneller, Zeitgenosse! Konzentriere dein Leben, damit du Zeit hast, zu warten!

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