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Prager, Jude und Bismarck-Schwärmer

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ERINNERUNGEN: PRAGER JUGENDJAHRE. Von Fritz Mauth-ner. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main. 336 Seiten. DM 18.20.

Fritz Mauthner (1849 bis 1923) ist zu Unrecht völlig vergessen. Noch verständlich, wenn es um seine Parodien, Satiren, Erzählungen oder die von nationalem Chauvinismus triefenden Romane geht. Aber sein eigentliches Lebenswerk - galt der Idee einer Erkenntniskritik der Sprache (worin er Wittgenstein vorwegnahm). Seine dreibändigen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ und das dreibändige „Wörterbuch der Philosophie“ münden in tiefgründigem Kritizismus, seine „Geschichte des Atheismus im Abendlande“ bietet eine nahezu lückenlose Geschichte des Gottesbegriffes. Manches davon verdiente wiederentdeckt zu werden.

Der S.-Fischer-Verlag legte jetzt die bereits 1918 erschienenen Erinnerungen Fritz Mauthners (er stimmte aus Hofitz bei Königgrätz) an seine Prager Jugendjahre neu auf. Sie umfassen die Zeit von 1855 bis 1876, Kindheit, Gymnasial- und Universitätsjahre bis zur Übersiedlung nach Berlin. Das Bild auf dem Umschlag zeigt einen nach damaliger Mode gekleideten Herrn mit wallendem Vollbart und etwas skeptisch forschenden Augen. Der Stil der Rückschau gibt sich unprätentiös, herzhaft, aufrichtig. Als junger Mensch scheint Mauthner idealistisch und schwärmerisch, eher unkompliziert, naiv. Der sich bedenkenlos zum Deutschtum bekennende Jude begeistert sich für Schiller, Nietzsche, Bismarck, gehört einer großdeutschen Burschenschaft an, demonstriert mit den Kommilitonen gegen nichtdeutsche Professoren und prügelt sich mit tschechischen Studenten. Dabei wollte er durchaus kein Chauvinist sein, wie es seiner Meinung nach die Tschechen waren, schrieb aber immerhin in dem sehr bemerkenswerten Kapitel: Nationale Kämpfe den Satz: „Ich bin Deutsch-Böhme genug, um nur mit Zorn den Gedanken fassen zu können, daß Prag bereits heute eine slawische Stadt geworden ist, in der die Deutschen als gehaßte Fremde leben, daß ganz Böhmen in absehbarer Zeit der Herrschaft der Tschechen anheimfallen wird.“ Und dazu die Erwägung, daß in Böhmen auch die „verwegensten Fanatiker“ nicht daran dächten, sich von Österreich zu trennen; nur daß nach ihrer Meinung „der Kaiserstaat slawisch werden soll, womöglich tschechisch“. Solche und viele ähnliche Äußerungen des Zeitgenossen Mauthner bezeugen nur, wie sich seit langem schon die Gegensätze in diesem Raum stießen, der in Wirklichkeit viel zu eng war für das Zusammenleben der Völker; wie die zeitweise Annäherung im Kulturellen, die Ära der Rilkes, Brods, Kafkas, Werfeis und anderen immer nur Episode blieb. Man begreift, daß Mauthner, der so scharfsinnig das geistige Geschick eines Volkes im Organismus einer Sprache zu deuten wußte, dem Prager Sprachengemisch aus: Bürgerdeutsch, Mauscheldeutsch, Hebräisch, Tschechisch und Kuchelböh-misch (wie er es selbst spezifiziert hat) entkommen mußte. Wie in dieser Umgebung sein Interesse für Sprachzusammenhänge und -gesetze von Jugend an geweckt wurde, wie sein Mißtrauen gegen die Sprache wuchs und er zur Kritik fand, mag in dem bedeutenden Kapitel: Kritik der Sprache nachgelesen werden. Der 22 Seiten umfassende Rechenschaftsbericht über die Herkunft des sprachkritischen Gedankens war Anfang April 1904 in Maximilian Hardens berühmter „Zukunft“ erschienen. Mauthners Erinnerungen zeigen nicht die vielberühmte hunderttür-mige Stadt, eher Kafkas „Mütterchen Prag“ mit den „Krallen“. Sie fesseln, weil sie den Ursprung einer Entwicklung bis zum Heute erkennen lassen, die im Gestrigen und Vorgestrigen wurzelt.

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