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Rabelais als Pate

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DER TABAKHÄNDLER, Roman. Von John Barth. Aus dem Amerikanischen von Susanna Rademacher. 800 Seiten. Originalausgabe: The Sot-Weed Factor (Doubleday and Company Inc., New York). DM 28.—.

Einer der berühmtesten amerikanischen Romane der Nachkriegszeit ist nun in deutscher Sprache erschienen, und nicht zuletzt angesichts seiner beträchtlichen Länge wäre man fast geneigt, ihn als ziemlich erdrückendes Beweismaterial in der endlosem Debatte gelten zujassen, die um die Frage kreist: Ist der Roman tot? In Wahrheit aber ist das vorliegende Werk nicht so sehr der historische Roman, für den er sich ausgibt, als vielmehr ein historisierender Roman. Aus seiner Kenntnis der Sprache und des Milieus ist es dem Dozenten für amerikanische und englische Literatur an der State University of New York gelungen, einen der besten englischen Romane des 18. Jahrhunderts zu schreiben. Freilich gab es damals noch nicht sehr viele, aber die Restaurationskomödien konnten ihm auch Pate stehen, ebenso Rabelais und, ganz aus zeitlicher Ferne, Ohaucer. Der Antiheld dieser unglaublich einfallsreichen Geschichte ist eine historische Gestalt, der Dichter Ebenezer Cooke, der ein satirisches Gedicht auf die Kronkolonie Maryland verfaßte. Nach vertrödelten Studienjahren in Cambridge und nachdem er bei einem Tabakimporteur in London auch nicht viel geleistet hat, wird der ebenso ambitionierte wie mäßig begabte Poet von seinem Vater nach Maryland geschickt, um das Herrenhaus und die Tabakplantagen der Cookes zu übernehmen. Das 17. Jahrhundert geht schon zur Neige, als Ebenezer seine Heimat verläßt, nicht ohne sich vorher vom (falschen) Lord Baltimore zum Poe-tus Laureatus von Maryland ernennen zu lassen. Die Bedrängnisse, die ihm durch Seeräuber, Gauner, wilde Indianer und Opiumschmuggler zuteil werden, bilden eine abenteuerliche Kette, die in der Entdeckung gipfelt, daß das Haus seines Vaters in ein Bordell verwandelt wurde. Die ununterbrochenen Schrecken und Wirrnisse wirken manchmal ein wenig konstruiert, aber die Vitalität dieses Romans läßt auf keiner Seite nach.

DIE VENEDIG- UND RHEINFAHRT 1608. Von Thomas Coryate. Aus dem Originaltext von 1611 übersetzt und erläutert von Hans E. Adler. Stemgrüben-V erlag Stuttgart. 415 Seiten.

In der Steingrüben-Bibliothek klassischer Reiseberichte ist nun Cory-ates Crudities erschienen. Es ist die Schilderung einer Reise, die der um 1577 geborene Sohn eines anglikanischen Rektors während fünf Monaten des Jahres 1608, größtenteils zu Fuß und zu Pferd unternommen hat; sein Bericht gehört zu den ersten, die das Reisen als Selbstzweck angepriesen haben. Daß ein Engländer in der damaligen Zeit im katholischen Ausland nach Herzenslust herumwandern durfte, war damals ungewöhnlich, aber . der Prince of Wales, Gönner des Autors, kam schließlich auf seine Rechnung: er gewann ein Bild von Frankreich, Savoyen, der Republik Venedig, der Schweiz, den Städten am Rhein und von den Niederlanden, das kein Handelsreisender, kein Diplomat und auch kein Spion ihm jemals hätte liefern können. Der Reiz dieses Reiseberichts liegt vor altem in der Genauigkeit, mit der Coryate das Gesehene und Erlebte schildert, und sicherlich war er einer der letzten Beobachter, die über das Leben in den Rheinstädten kurz vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges Zeugnis abgelegt halben.

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