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Stellen, auf Jenen icri nie gegangen bin

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Die Eltern schlugen meine Bitte, mir Stelzen zu verschaffen, rundweg ab, die Mutter: ich solle, bevor ich auf Stelzen ginge, zuerst einmal lernen, keine Mäuler in die Schuhe zu stoßen; und der Vater: „Mach' dir was, dann hast du was!“ Aber tief überzeugt, daß meine Handwerkskünste der hohen Vorstellung, die ich von den Stelzen hatte, nicht gerecht werden könnten, ging ich zum Schreiner Jul. Er beschloß, mir ein Paar Stelzen zu machen „wie für seinen eigenen Sohn“ — und so sahen sie denn auch aus: vollkommene Schreinerarbeit aus bestem Holz, mit gedrechselten Stangenköpfen und eingesetzten Gehblättern, er arbeitete einen ganzen Morgen. Sodann zog er den Stangen mit Ölfarbe blauweißgekringelte Strümpfe an, und ich mußte drei Tage lang auf die prächtigen Holzbeine warten — auf denen ich niemals einen Schritt gemacht habe.

Als ich sie mit nach Hause nahm, überfielen mich bald ein paar Stelzer: oh, das-seien ja Fahnenstangen, lachten sie, ich wolle wohl einen Zirkus aufmachen? Ich zeigte den Burschen meine ganze Verachtung und ging in bemühter Langsamkeit davon, doch riet mir mein älterer Bruder, die Farbe abzukratzen, sie sei zu auffällig. Ich sah wohl ein, daß sein Ratschlag nach den Umständen vernünftig sei, doch brachte ich es nicht übers Herz, Juls schöne Arbeit derart zu verhunzen.

So packte ich die Stelzen und ging vor das Nachbarhaus. Das war ein winziger Sandsteinbau, und darin wohnte ein armer Mann, mit dessen Sohn Matti ich — ganz ohne Neigung und wohl nur, weil die Eltern es streng verboten hatten und er auch so bei der Hand wohnte — gelegentlich spielte und Erkundungszüge machte. Der Matti litt an Epilepsie, an der „fallenden Krankheit“, wie meine Eltern sagten. Ich rief ihn vor die Türe, hineinzugehen wagte ich doch nicht, und 2eigte ihm meinen Schatz; ich brauchte einen Bewunderer, und ich wußte: der Matti wird Nase und Mund aufsperren.

Er nahm sofort beide Stangen in die Hand, betrachtete, befühlte sie, rieb an der Farbe, und schließlich sagte er mit seiner angestrengten und gequetschten Stimme: „Die Stelzen sind schön!“ Und mit schräg hingehaltenem Gesicht lächelte er mich angstvoll und drohend zugleich an: „Ich habe keine, du kannst mir sie schenken!“ Noch heute, nach fast dreißig Jahren, sind die Spuren, die Mattis Worte in mir hinterließen, entzifferbar, und manchmal, wenn idi später auf die Worte stieß: „So dich jemand um deinen Mantel bittet, gib ihm auch noch das Kleid!“ erinnerte ich mich Mattis und seiner meinem Knabenherzen ungeheuerlich vorkommenden Zumutung. Hätte ich sie ihm doch gegeben — dachte ich später gelegentlich —, aber dann gab ich auch wieder dem kleinen Jungen nachträglich recht, daß er die schönen Stelzen so hartnäckig verteidigt hatte. Denn es war sogleich zwischen Matti und mir zu einer Rauferei gekommen, in der wir beide um die eine Stelze — die andere lag an der Erde —, wie um eine Bannerstange kämpften, bis er plötzlich, nahe an mir keuchend und röchelnd, mit verzerrten Lippen lallte: „Ich muß sterben, ich muß sterben!“ Und dann stieß er einen so entsetzlichen Schrei aus, daß ich die Stange losließ und selber die Arme in die Höhe warf, nur um atmen zu können.

Indes kam seine Mutter, eine magere, grobknochige Frau mit vorstehenden Augen, aus dem niedrigen Haus gestürzt. Kaum hatte sie den Sohn so gesehen, machte sie eilends kehrt, kam aber ebenso schnell wieder, ein nasses Handtuch vor sich in die Höhe haltend: furienhaft und voll erschreckender Mütterlichkeit. Da lief ich fort, ihre Stimme immerzu in meinem Ohr, die in gewohntem Jammerton rief: „Mein armer Jung'!“

Die Stelzen waren, als ich eine halbe Stunde später nachschaute, verschwunden. Als ich Matti nach ein paar Tagen traf, fragte ich ihn danach. Er blieb eine Weile auf der Stelle stehen und lächelte, die Hände in den Hosentaschen; schließlich sagte er: „Komm, du kriegst sie“, und ging vor mir hinters Haus.

Dort stand ein Holzklotz, und er blieb davor stehen und sagte mit einem inbrünstigen, drängenden Hohn in der Stimme, der ihn stottern ließ: „Da — da — sind sie!“ Ich sah ein Stück blauweißen Holzes daliegen,' genau so groß, in einen Ofen zu passen. Ich zog es heraus, betrachtete es eine Weile, und dann las ich, wühlend und suchend, Stück um Stück aus dem Holzhaufen. Und ich legte meinen Fund zusammen, ordentlich, wie ein Paläontologe mit seinen Ausgrabungen verfahrend, doch mit dem Unterschied, daß ich mit jedem herausgelesenen Stück trauriger wurde. Als ich fertig war und die beiden Stelzen, als wären sie ganz, vor mir auf der Erde lagen, begann ich zu weinen. Schließlich fragte ich ihn, warum er das getan habe, denn ich wußte es sofort: nur er konnte es gewesen sein. Und da sagte er mir: „Weil ich ja nicht auf Stelzen gehen kann, weil ich ja die fallende Krankheit habe!“ Und er nickte, als stimmte er sich selber zu.

Als ich übers Jahr in den ersten Ferien heimkam, war auch Jul gerade auf Kriegsurlaub zu Hause. Matti war tags zuvor gestorben, und Jul stand soeben, als ich ihn besuchte, an der Hobelbank, um den Sarg zu machen. „Ja“, sagte er, „nun kannst du dir ja die Stelzen wiedergeben lassen!“ Und er reichte mir ein Stück Glaspapier, ich solle den Sargdeckel ein wenig polieren. Da nun kam mir eine Träne, deren lichte Wehmut ich damals nicht begriff. Ich glaubte unbestimmt, sie gelte dem Matti, aber das war nicht so. Im Dorf übrigens war das Stelzenlaufen schon in Vergessenheit geraten, man spielte jetzt. Krieg, schoß mit Flitzebogen und trieb Reifen durch die Straßen.

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