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Visitenkarten für Hagen

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Ich brauche ndue Visitenkarten, denkt Herr Hagen. Als Mann des schnellen Entschlusses richtet er seine Schritte zur Druckeręi im Goethe-Gäßchen, wo schon der Vater und der Großpapa ihre Besuchskarten herstellen ließen. Der Angestellte mustert Hagen mit geübtem Blick, schätzt ihn auf eine leicht überdurchschnittliche Qualität ein und beschließt, dementsprechend nicht die billigste Sorte vorzuschlagen. Er nimmt aus der altersbraunen Stellage hinter sich einen Abreißblock, legt ihn elegant vor Hagen auf das Pult, deutet auf eįnen Bleistift und sagt „Bitte sehr!“

Hagen nimmt den Bleistift, schreibt nicht ohne Schwung1;,Siegfried D. 'Hägfen" aufMäs blütenweiße Blatt und — nun,' dann beginnt er den Bleistift unschlüssig hin und her zu drehen. Er merkt, daß es nicht so einfach ist, das passende Wort zu finden, das als nähere Bezeichnung unter den Namen gehört.

Hagen überlegt. Was will ich eigentlich? analysiert er scharfsinnig. Ich suche einen neuen Job, ich brauche Visitenkarten, die einen vorteilhaften Eindruck machen, die resolut und präzise sagen, wer ich bin. Das ist es, die Karten müssen auf den ersten Blick erkennen lassen, daß ich eine Persönlichkeit von Rang bin. Er zückt den Bleistift, stockt, hüstelt, fühlt den neugierigen Blick des Angestellten auf sich gerichtet, sagt verweisend: „Einen Augenblick, bitte!" — und ist so klug wie zuvor.

Ach, bisher war es so einfach, bisher gehörte man zu etwas, da konnte man lapidar „Siegfried D. Hagen, Benelux-Versicherungsgesell- schaft m. b. H.“ hinschreiben. Das klang gut und sicher wie der Name des Heimathafens für ein Hochseeschiff. Das gilt jetzt nicht. Die Versicherungsgesellschaft ist in Konkurs gegangen, den Hafen gibt es nicht mehr. Das Schiff ist herrenlos, es treibt ohne Flagge im Weltmeer als leichte Beute für jedermann.

Ich kann doch nicht, denkt Hagen und ist amüsiert, ich kann doch nicht drucken lassen: „Siegfried D. Hagen, Persönlichkeit von Rang." Es wäre die Wahrheit, doch es gibt Situationen, in denen man die Wahrheit besser verschweigt. Die Leute würden das für unbescheiden, würden es für eine Herausforderung halten. Soll ich schreiben „Ehemaliger Versicherungsbeamter“? Nein, das geht schon gar nicht, das klingt nach a. D., außer Dienst, nach Pensionsreife, nach Senilität. So alt bin ich doch noch gar nicht. Auch wäre es psychologisch falsch — die Leute wollen etwas, das nach Energie klingt, nach Zukunft. Ausgezeichnet! Das ist der richtige Ansatzpunkt: ich brauche eine Karte mit Zukunft.

Hagen zückt den Bleistift. Doch es fällt ihm nichts mit Zukunft ein. Er zündet sich eine Zigarette an. Ein Blick zu dem Angestellten überzeugt ihn, daß der Mann sein aufdringliches Anstarren aufgegeben hat und sich mit anderen Dingen beschäftigt. Das ist gut. Wenn ich Ruhe habe, wird mir gleich ein guter Gedanke kommen, überlegt Hagen gelassen. Man darf den Leser einer Besuchskarte nicht überfordern, man darf nicht zuviel voraussetzen, das liegt so in der heutigen Zeit. Also ein kurzes, rasches Wort, das jeder versteht, ein Wort wie ein Slogan, ein Ausdruck, der die Aufmerksamkeit fesselt, ohne einen Denkprozeß zu verlangen, ohne höhere Bildung vorauszusetzen.

Am richtigsten wäre, denkt er, ich schriebe einfach: Mensch. Das bin ich doch jedenfalls. „Siegfried D. Hagen, Mensch." Nein, das wirkt albern, viel zu pathetisch. Natürlich bin ich ein Mensch, es zweifelt ja niemand daran. Teufel, hätte ich mein Studium beenden können, so wäre es herrlich unkompliziert und ich dürfte schreiben: „Dr." Damit wären alle Probleme gelöst. Ich kann Joch nicht hinschrejben: „Siegfried D. Hagen,. durch den Krieg vorhin-, derter Akademiker ..." Lauter Unsinn. Ich muß mich besser konzentrieren.

Hagen lacht plötzlich vor sich hin. Ihm fällt ein, wie er sich zur Matura zum Scherz Karten drucken ließ: „Siegfried Hagen, Nibelunge." Das waren noch Zeiten! Durch das Lachen aufgelockert. hat er das Gefühl, daß ihm gleich die blendende, die zündende Idee kommen wird. Man darf so ein kleines Problem nicht zu ernst nehmen, sagt er sich aufgeräumt. Also, ich schreibe ganz einfach ...

Ihm fällt auf, daß der Angestellte ein mißtrauisches Gesicht macht. Der dumme Kerl glaubt womöglich, ich plane einen Schwindel, denkt er entrüstet. Sehe ich aus wie ein Schwindler? Ich habe bloß keinen Titel und keinen Heimathafen, darin liegt die Schwierigkeit. Was bin ich denn wirklich? Ein Stellensuchender. Aber das kann ich doch um Himmelswillen nicht hinschreiben. Was bin ich noch? Verheiratet, Christ, Schachspieler, Amateurphotograph, Angler. Bastler, Lebensretter — ja damals habe ich den Betrunkenen aus dem Fluß gefischt. Es ist zum Verzweifeln!

Der Angestellte tritt heran, räuspert sich: „Verzeihung, mein Herr, wir schließen jetzt — darf ich um Ihren Auftrag bitten?“

Hagen blickt erschrocken auf. Das ist die lächerlichste Situation meines Lebens, schießt es ihm durch den Kopf. Was ist das für eine Zeit, in der wir leben? Wenn einer nirgendwo dazugehört, ist er verloren. Ich wolllte, ich lebte in der Steinzeit. Da war einer, was er war, ohne Visitenkarte. Ich kann doch viel, immer waren alle zufrieden mit mir, ich habe immer Lieberstunden gemacht, habe nie eine Arbeit unfertig Hegengelassen. Nie habe ich jemanden gekränkt, vielen habe ich geholfen, manchen getröstet, manchen froh gemacht. Ich bin, wenn ich arbeite, unermüdlich. Ich verdiene eine gute Stellung, das weiß ich. Doch das alles gilt nichts, wenn ich mir eine Visitenkarte drucken lassen will...

Hagen reicht dem Angestellten zögernd das weiße Blatt mit seinem Namen hin. Der Mann verzieht keine Miene, er macht geschäftsmäßig etliche Notizen, kassiert die Angabe und sagt: „Also bitte bis Freitag mittag, Herr.,." und nach einer winzigen Pause, in der er nachlässig auf den Zettel blickt: „Herr... Hagen."

Hagen verläßt den Raum. So wird es überall sein, denkt er, wo immer ich mich in der nächsten Zeit vorstelle — man wird mich an reden mit „Herr.. . , wird die kleine Pause machen und dann, nachlässig und nicht ohne einen Unterton des Bedauerns den blanken, titellosen, heimatlosen Namen hinzufügen: „ ... Hagen.“ Also gut. Damit muß ich eben rechnen. Hinter mir steht niemand, keine Organisation, keine Partei, keine Firma. Ich bin ja bloß ein Mensch ...

Schmerzlich belustigt tritt Siegfried D. Hagen auf die Straße. Er kommt in dichtes Menschengewühl, in der City hat die Mittagspause begonnen, die Leute gehen, eilen, hasten zu Tisch. Hagen blickt jetzt ruhig in die Menge, er lächelt wieder. Daß mein Name blank auf dem

Kärtchen stehen wird, denkt er fast glücklich, ist zwar nicht vorteilhaft, doch es entspricht der größeren Wahrheit, nach der doch jeder streben sollte. Die Doktoren, Ingenieure, die Oberkontrollore und Prokuristen, die Ministerialräte i. R. — mein Gott, sie sind doch alle zuerst und hauptsächlich einmal Menschen, auch wenn sie sich nicht darüber im klaren sind. „Hallo, ihr Menschen!“ ruft er den Leuten auf der Straße zu, doch vorsichtshalber nicht laut, sondern nur in seinen Gedanken. Dann biegt er vergnügt um die Ecke, wo das Restaurant wartet, in dem er seine wohlverdiente Mahlzeit einnehmen wird.

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