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Warum man reist

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Weil es auch in der Schule des Lebens schwer ist, immer still auf einem Platz zu sitzen. Weil dreißigtausend Prospekte, Reklamen und Annoncen uns rotglühende Bergesgipfel bzw. waschblaue Mittelmeergestade vorgaukeln. Weil wir uns Glück nur in Form von Reisen vorstellen — woher denn sonst die vielen Autos? Weil man jung ist und hinaus in die Ferne will, oder alt, und auch mal ausspannen möchte. Weil man einen Traum hat — von Griechenland, von Italien, von der Südsee, vom Amazonas — und ihn per Fahrkarte realisieren will. Weil man soeben geheiratet hat. Weil man nicht geheiratet hat und Bekanntschaften oder Abenteuer sucht. Weil man ein Pilgrim ist oder ein Wanderer, der einen Ort sucht, wo es noch Gerechtigkeit gibt. Weil alle reisen.

Aber das ist ja nur die eine Art des Reisens, nämlich die freiwillige. Weit zahlreicher sind jene Reisen, wo man muß. Zum Beispiel zu einer Konferenz. Oder weil man doch sein Generalabonnement auszunützen hat. Oder weil man in Textilien reist. Oder weil man einen Posten Kokain über die Grenze schaffen muß. Oder weil man von einer Redaktion ausgeschickt wurde, um exotische Eindrücke zu sammeln. Oder von seinem Geheimdienst, um einen bestimmten Menschen zu verschleppen. Oder weil man verduften will, ehe die Unterschlagung herauskommt. Oder weil man eine Tournee macht. Oder weil man Missionär ist. Oder Angestellter der Internationalen Schlafwagengesellschaft ... Doch diese Liste kann noch größer werden als das amtliche Kursbuch.

Das muß schon ein gewaltiger Drang zum Reisen sein, der heute soviel Räder und Flügel und Reiseindustrien geschaffen hat! Und zwar ist dieses Reisen die populärste Form von Glück, aber auch Ausdruck der Unzufriedenheit. Wem's gut geht, der will nicht fort. Erst nach dein Sündenfall wurden Adam und Eva Displaced Persons und traten ihre Reise an. Ich kannte eine uralte Bauernfrau, die saß stets am Wiesenhang, hatte ihre Eisenbrille aufgesetzt und las in der Bibel. Als ich sie wieder einmal im Vorbeigehen begrüßte, blickte sie auf und sagte ganz still und froh: „Recht gern bin i dahoam, recht gern...“ Die dachte also nicht ans Reisen, oder wenn, dann mehr in der Vertikale: hinunter und hinauf. Am meisten reist natürlich — in Gedanken — der Zuchthäusler. So ein Gefängnis, so ein menschlicher Zoo, wo alles in Käfigen sitzt, birgt manche Reisepläne. Aber auch von uns Uneingesperrten trägt jeder seine Reise in der Brust: zuerst als Prospekt, nachher' als Photoalbum. Und wenn einer gar in Punta Arenas gewesen ist, so ist er eben damit gesteigert und potenziert. Er ist nicht mehr der N, er ist N „hoch“ Punta Arenas = N Punta Arenas.

Das muß in der Zeit liegen, wo es nach Amerika (und bald nach dem Mond) gehupft wie geflogen ist, denn in meiner Jugend dachte man wenig ans Reisen. Man fuhr im Sommer aufs Land, das war alles. St. Petersburg, wo wir wohnten, lag schon fast am Meer, und es gab dort in 20 Minuten Entfernung ein Seebad namens Sestrorezk. Nun, ich bin in den zehn

Jahren auch nicht einmal in Sestrorezk gewesen! Dabei hätt' ich's jederzeit tun können — aber man kam gar nicht auf den Gedanken. Wozu? ... Erst viel später begann mich das Reisefieber zu schütteln.

Man reist stets von etwas weg und zu etwas hin, zum Beispiel aus dem Alltag in die Sehnsucht. Dadurch wird man ein anderer, wird Mensch, sieht aus neuen Augen — den fremden Alltag; man betrachtet ihn unbeteiligtinteressiert wie ein Mann aus dem Mond, wie ein Dichter — und er wird phantastisch. Daß das, wovon man geträumt hat, wirklich da ist, ist das Unglaubliche. In London nahm ich als erstes ein Bad. Ein gewöhnliches gekacheltes Badezimmer, wie überall, doch das Gefühl, das mich beim Plantschen plötzlich überfiel: ,,Du bist jetzt in London!“ war unbeschreiblich. Ich träume nie, aber wenn einmal, so stets eine Reise, eine Wanderung: diese Traumländer sind bezaubernd, aber wehmutumflossen, denn irgend etwas in ihnen hat sich verändert — ich kann das Einst nicht mehr wiederfinden ...

Man reist, sagte ich, weil man will oder weil man muß. In Blütezeiten der Kultur blühen auch die freiwilligen Reisen. Die Griechen auf ihren Schiffen waren ständig nach etwas aus, wie auch ihr Held Odysseus; durch die Märchen von Tausendundeiner Nacht ziehen die Karawanen, und im Hochmittelalter trappelte es auf allen Straßen Europas: Kreuzfahrer, Legaten, Scholaren, Vaganten — „Von Pilgerscharen wimmelten die Wege“. — Und anderseits reisen die Menschen gerade in Ländern und Zeiten, wo es ihnen schlecht geht: die Massen werfen sich hier- und dorthin, übernachten in Bahnhöfen und Auffanglagern — immer in der Hoffnung, irgendwohin zu kommen, wo die Lebensbedingungen besser sind. Aber auch im heutigen Nordamerika, wo die Menschen relativ glücklich sind, gibt es doch Millionen, die nur in Autos und Wohnanhängern leben, improvisierte Nomadenstämme bilden, und dann wieder auseinanderfahren: Flucht vor der Bindung. .. Man muß seine Bindung lieben, das ist die Kunst: „Recht gern bin i dahoam.“ In unserer Zeit des Massenelends und der Massenprosperität wird gereist wie nie zuvor: alles flieht, wird verschickt oder reist anderseits in die Ferien — eine Völkerwanderung in Permanenz, eine „Stoßzeit“ des ganzen Planeten! Zwei Tendenzen reißen heute den Menschen hin und her: die nach dem Eigenheim und die nach dem Reisen. Doch in Wirklichkeit gehören beide zusammen, denn zum rechten Reisen gehört erst recht ein geliebtes Heim, wie zum Nähen der Knoten. „Hinaus in die Ferne!“ hat Heimat zur Voraussetzung. Sonst bleibt das ja doch bloße Ortsveränderung.

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