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Herr Nicolas Chauvin

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Einen übersteigerten Vaterlandsstolz kennen wir schon aus dem griechischen und römischen Altertum, sogar -bereits aus der orientalischen Geschichte, aber die dafür übliche Bezeichnung wurde erst vor hundert Jahren geprägt.

Man braucht das Wort Chauvinist und Chauvinismus dafür ganz selbstverständlich, ohne sich weiter Gedanken über seine Herkunft zu machen.

Man weiß, daß es aus Frankreich stammt und von uns wie so viele andere Worte übernommen ist, die sich nicht verdeutschen lassen, ohne ihren wahren Sinn zu verlieren.

Auch in Frankreich selbst gebrauchte man es lange Jahre, ohne zu wissen, woher es eigentlich kam und wie es zu seiner jetzigen Bedeutung gelangte.

Als man ihm endlich nachforschte, erlebte man eine Überraschung.

Da hatte Eugene Scribe, einer der erfolgreichsten Bühnenschriftsteller, der sich noch bis in das zweite Kaiserreich mit viel Glück betätigte, unter seinen zahlreichen Stücken auch eins geschrieben, das den Titel „Le Soldat laboureur“ führte und zu dem .ihm den Einfall ein abgedankter, seinerzeit in Paris wegen seiner Schwärmeret für den Kaiser allgemein bekannter napoleonischer Veteran, Nicolas Chauvin aus Rochefort, gegeben haben sollte.

In der Hauptfigur des Scribeschen Stücks, Chauvin, glaubte man nun den geheimnisvollen „Chauvinisten“, von dem man immer wieder hörte, gefunden zu haben, und so stand es denn auch in der neuesten Auflage der Enzyklopädie von Larousse.

Aber dann stellte es sich heraus, daß Scribe doch nicht der Schöpfer des Herrn Chauvin war, sondern Fisur und Namen von einem verschollenen, früher gleichfalls sehr erfolgreichen Bühnenautorenpaar, den

Brüdern Theodore und Hippolyt C o g n i a r d, übernommen hatte.

Diese beiden gewandten und witzigen Schriftsteller erfreuten sich, als Scribe noch um seine Anerkennung und den Beifall des Publikums zu kämpfen hatte, schon allge-. meinen Ansehens und eines fest begründeten Rufes als außergewöhnlich wirksame Bühnenautoren.

Im November 1831 wurde wieder eins ihrer Lustspiele mit großem Erfolg aufgeführt: „Die dreifarbige Kokarde“, in seinem Mittelpunkt stand Monsieur Chauvin, „Herr Chauvinist“, ein Prahlhans, der sich in der Verherrlichung alter Militärgebräuche und Militärgeschichten nicht genug tun konnte, die sich aus dem unerschöpflichen Reservoir der Revolution und der napoleonischen Kriege nährten.

Das stets volle Haus amüsierte sich jeden Abend über Herrn Chauvin, und sdion einige Wochen nach der Erstaufführung wurde sein Name als Hauptwort gebraucht und klein geschrieben.

Plötzlich besaß man eine Bezeichnung für alle, die man als rückständig charakterisieren wollte, für die Leute, die der Vergangenheit angehörten, in Militärparaden den Lebensinhalt einer Nation erblickten und dem weltverbrüdernden Romantikergeist der Dreißigerjahre fernstanden.

Schon neh* drei Monaten war aer Ausdruck Chauvinist in allen Pariser Bevolke-rungsschichten so gebräuchlich, daß die-Theaterbesucher fest davon überzeugt waren, die Verfasser des Lustspiels hätten ihrer Hauptfigur ein allgemein übliches Schimpfwort als Namen beigelegt, um sie verächtlich oder lächerlich zu machen.

Man begann dagegen Einspruch zu erheben und wollte die Autoren zwingen, ihrem Helden einen anderen Namen zu geben, denn er ließ sich schließlich weiter nichts zuschulden kommen, als die ruhmvollste Militärepoche Frankreichs zu lieben.

Die Cogniards, von der plötzlichen Protestwelle überrascht und betroffen, beteuerten, sie hätten diesen Namen rein zufällig gewählt, und lange nach der Erstaufführung sei er erst zur Bezeichnung eines Begriffes geworden. Aber ale ihre Versicherungen nützten ihnen nichts, und ihr Lustspiel mußte infolge der immer heftiger werdenden Proteste abgesetzt werden.

Die an der ganzen Sache völlig unschuldigen Cogniards verloren die Gunst des Publikums, ihre beste Zeit war vorbei, sie gerieten bald samt ihrem Werk in Vergessenheit.

Aber Herr Chauvin lebte weiter, und Scribe nahm in sein Stück seinen Namen hinüber.

In ftrlamentsredVn tnVd Wortgefechten

gebrauchten die Politiker und Publizisten die “Worte „Chauvinist“, „Chauvinismus“, und in Wahlschlachten gehörten sie zu den unentbehrlichen Waffen.

Die französische Akademie aber, die das französische Wörterbuch redigierte, die höchste Instanz für das Schicksal der Wörter, fügte sich, konservativ wie sie war, nicht der Tagesmode und beriet sorgfältig, ob ein Wort der Aufnahme in ihrem Wörterbuch auch würdig sei.

Viele in diesem Jahrhundert und besonders während und nach der Kriegszeit entstandene Wörter wurden dort nicht verzeichnet, und da die Auflagen des Buches in großen Abständen erschienen, gingen viele Wörter, die zu bestimmten Zeitpunkten gewissen Begriffen Form und Farbe gaben, nach einigen Jahrzehnten aber außer Gebrauch kamen und vergessen wurden, für die Geschichte- der Sprache völlig verloren. Fast hätte das Wort „chauvin“ ihr Schicksal geteilt. Im Dezember 1831 war es bereits auf aller Lippen und gedruckt überall zu lesen.

Als aber die “Auflage des akademischen Wörterbuchs von 1835 erschien, hielten es die Akademiker, obwohl das Wort gebräuchlicher war als je, nicht für nötig, von seiner Existenz amtlich Notiz zu nehmen.

Erst in der nächsten Auflage von 1878, also 47 Jahre nach seinem Entstehen, wurde es von ihnen legalisiert.

Die für dies Wort gegebene Erklärung ließ seine ursprüngliche Bedeutung, aber nicht seinen Ursprung erkennen.

Sie lautete:

„Familiärer Ausdruck, den man gebraucht, um ein Gefühl lächerlich zu madien, das von dem Ruhm der französischen Waffen überströmt.“

Seitdem ist weit über ein halbes Jahrhundert vergangen, wenige wissen mehr von den Brüdern Cogniard und ihrem Monsieur Chauvin, und auch der von der französischen Akademie diesem Wort 47 Jahre nach seinem Entstehen beigelegte Sinn ist geschwunden.

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Vor mehr als hundert Jahren, als die Romantiker von der Völkerverbrüderung träumten, löste Herr Chauvin das Gelächter der Theaterbesucher aus.

Er verschwand wohl von der Bühne, von den Brettern, welche die Welt bedeuten, aber in der Welt selbst lebte er weiter, und während seine Schöpfer vergessen sind, ist er unsterblich geblieben.

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