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Aufschwung und Not

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Vor einigen Jahrzehnten arbeiteten in den Hallen der Pottensteiner Tuchfabrik noch 600 Menschen, nun wird bis 29. Oktober hier die Niederösterreichische Landesausstellung „Magie der Industrie" gezeigt. Die 1980 stillgelegten Werkshallen werden in Zukunft als Gebäude der Straßenmeisterei genutzt, mit ihren kunstvollen Holzbindern bilden sie einen reizvollen Rahmen für diese Ausstellung - höchst verdienstvoll wird so kulturhistorisch interessante Industriearchitektur erhalten.

Die Wahl des Ausstellungsortes ist aber auch aus industriegeschichtlichen Gründen sinnvoll, ist doch das südliche Niederösterreich, der Raum um Wiener Neu-

stadt, voller Zeugnisse früher Industrialisierung. Im benachbarten Berndorf haben Arthur und Hermann Krupp als Besitzer der Metallwarenfabrik schon vor der Jahrhundertwende ein Sozialprogramm verwirklicht, das von Arbeiter- und Angestelltenwohnungen, Speisehallen, werkseigenen Geschäften bis zu einem eigenen Theater, einer Kirche, einer Lesehalle und einer Schule für die Kinder der Werksangehörigen reichte. Zur Heranbildung des Kunstsinnes der Schüler ist jedes der Klassenzimmer im Stil einer bestimmten kulturellen Epoche gehalten - von den Ägyptern bis zum Jugendstil.

Und noch während des Zweiten Weltkrieges war Wiener Neustadt Zentrum der NS-Rüstungs- und Flugzeugindustrie und nach 1945 die am stärksten zerstörte Stadt Österreichs.

Diese „Arbeit für den Tod" steht auch am Ende des zweiten Ausstellungsabschnittes in der Pottensteiner Tuchfabrik, der den maßgeblichsten Industriezweigen Niederösterreichs gewidmet ist. Beginnend mit den" Webern und Hausierern des „Bandlkramerlandls" im Waldviertel über die Glas- und Spiegelerzeugung mit Zentrum im nahegelegenen Neuhaus im Triesting-tal bis zur Pottensteiner Baumwollspinnerei (einer Vorgängerin der Tuchfabrik), in der Frauen und Kinder billig importierte Baumwolle in einem 15-Stunden-Tag zu Niedrigstlöhnen verarbeiteten.

Am „Schlachtfeld Wienerberg",

dessen Lehmabbau zur Ziegelherstellung bis weit entlang der Südbahn reichte, verfertigten häufig ganze Familien in 16-Stun-den-Tagen das Baumaterial der Gründerzeit. Die Fotos der auf den Ringöfen zum Ziegelbrennen schlafenden Arbeiter, denen zwar „der Besuch des Sonntagsgottesdienstes ermöglicht" wurde, aber „Entlassung ohne Kündigung" drohte und deren Gesundheitsgefährdung unvorstellbar gewesen sein mußte, berühren noch heute.

Nicht einmal zwei Minuten soll damals der Alibi-Besuch Kaiser Franz Josephs in einer Arbeiterwohnung der Krupp’schen Metallwarenfabrik in Berndorf gedauert haben, und „Die Fackel" ätzte, daß „Krupp-Arbeiter im Theater befriedigt" werden sollten.

Die Kehrseite industriellen Aufschwungs vermittelt auch die

Tatsache, daß in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges bei einem Brand in der Munitionsfabrik Wollersdorf 400 Frauen den Tod fanden. In der Zwischenkriegszeit erlebte die Kfz-Pro-duktion in Wiener Neustadt mit der Entwicklung des Austro-Daimler einen Höhepunkt. Daß nach 1945 die Energiegewinnung durch den Ausbau der Donaukraftwerke und durch die Erdölförderung Niederösterreichs Wirtschaft maßgeblich bestimmten, scheint heute fast vergessen.

Um die Menschen, die diese frühe Welle der Industrialisierung in Niederösterreich bestimmten -oder von ihr bestimmt wurden —, geht es im ersten Ausstellungsabschnitt. Die verschiedenen Typen von Arbeitern werden nebeneinandergestellt, die aus Böhmen und Mähren zugewanderten An-

gelernten, die gut ausgebildeten mittelständischen Facharbeiter, die Vorarbeiter oder Werkmeister waren, die aus den Handwerksbetrieben des Alpenlandes Zugewanderten, die nebenbei ihre bäuerlichen Anwesen bewirtschafteten. Illustrationen und informative Texte berichten von den mangelhaften Schutzvorrichtungen, den zahlreichen Arbeitsunfällen.

Beklemmend lesen sich Paragraphen der Arbeitsordnung, betreffend nicht nur Akkordarbeit und Arbeitszeiten, sondern auch die Schonung des Gerätes, den Gehorsam, den Alkoholmißbrauch und die „Belästigung von Frauenspersonen". Arbeitervereine, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften kommen - eher kurz - zu Wort, die Situation der Frauen als Arbeiterinnen wird nicht ausdrücklich beleuchtet, Hausarbeit und Kinderversorgung werden nur am Rande gestreift Ein bezeichnendes Foto: Eine Arbeiterfamilie ist um den ärmlichen Eßtisch versammelt, nur auf dem Teller des Vaters liegt ein großes Stück Wurst.

Ausführlich und aufschlußreich wird die Rolle der Unternehmer dargestellt. Persönlichkeiten wie Georg Sigl, Johann Heinrich Geymüller, Johann Fries, Andreas Topper oder Hermann Broch (der Dichter war Leiter der väterlichen Spinnfabrik in Teesdorf) passieren Revue, Firmenwappen, Ehrenmedaillen, Gedenkmünzen…

Die neue Welt der Industrie und ihre Symbole wurden auch zum Gegenstand der bildenden Kunst, Terrakotten, Abgüsse in Gips und Eisen sorgten für weite Verbreitung. Expressionismus und Neue Sachlichkeit nahmen sich im Bild der Themen an: Alois Hänischs „Kalkofen bei Mannersdorf an der Leitha" (1912), Erika Giovan-na Kliens „Stadtbahnbrücke in Hietzing" (1922/23), Anton Ha-naks „Arbeiter" (um 1925).

Dokumentarfilme, eine Multimedia-Schau, Haushaltsplanung anno 1910 als Computerspiel und ein Aktivraum für Kinder ergänzen ein Thema, das ins Heute wirkt.

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