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Ausflug nach Chartres

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Mein Freund hat sich Zeit genommen und mich nach Chartres gefahren, der Gute, der meine Wünsche stets erst nimmt, auch wenn er sie nicht versteht. Schon die Fahrt ist eine Freude, es geht durch einen grauen, aber mil­den Wintertag. Wir haben die Au­tobahn vermieden, wir sehen schnurgerade Alleen und dahinter die Nebelbänke, die uns nie zu nahe kommen.

Aber als wir fast am Ziel sind, bricht die Sonne durch. Da tauchen hinter den Brachfeldern die Türme auf, sind einander gleich auf den ersten Blick, aber unterscheiden sich dann sehr bald. Der echte, - ich meine: der alte, - muß wohl der spitze sein, oder wäre es umgekehrt? Ich will keine Erklärungen, kein Fachwissen, Chartres ist mir kein Touristenort, sondern eine alte Liebe.

Voller Spannung fahre ich dann jeweils durchs Städtchen, verstehe den kleinen Maßstab nicht, die hingeduckten Häuser ohne Allüre. Da ist nicht einmal Bürgerlichkeit, vieles könnte für arm gelten. Und dann schlägt einem die Kathedrale heftig und dennoch zart ins Ge­sicht.

Ich bin froh, daß mein Freund zuerst in einem Cafe einkehrt - sein Aperitiv ist ihm wichtig - und mir so die ersten Augenblicke allein gehören.

Man begrüßt eine alte Liebe am besten unter vier Augen. Es ist eher eine lauwarme Zuneigung, aber sie hält an. Ich bin weder gerührt, noch gefühlsüberkommen, als ich ein­trete, Touristengruppen gibt es auch heute, mitten im Winter, ich höre Führer auf Englisch, Spanisch, Japanisch plappern, nur Fakten, Fakten, Fakten geben sie, und die Gruppen sind klein und kleinlaut, versprengtes Jännervolk, wir schreiben den kältesten Monat, da gibt es nur gutes Publikum, und es verliert sich auch gleich in den immensen Kirchenschiffen, einem Innenraum, dem, so scheint es mir, alle Stimmung fehlt.

Nein, ich staune nicht, bete nicht, verfalle nicht in Pathos, aber ich bin hier, hier bin ich, gesegnet mit meinem Wiederkommen, mit dem Glück meines fast allgegenwärti­gen Lebens, und das genügt zur Freude und zur Verwunderung. Warum mir vergönnt ist, was kaum in meinen Kopf hineinpaßt? Dieser Reichtum, Reichtum auf allen Ebe­nen, dieses In-der-Welt-Sein, zu­hause, Teil davon, und warum mir dieser Segen zuteil wird, das weiß ich nicht.

Aber eine Heiterkeit und eine Wärme erfüllen mich, die mich fast unbeteiligt hier sitzen lassen, kein innig Andächtiger, kein wirklich guter Christ, kein Hingegebener, nur ein Beschenkter, dem es, so Gott will, gegeben sein soll, etwas zu­rück zu schenken, noch zu leben, in der Fülle zu bleiben und zu schrei­ben, im Guten und Schlechten, wie es im Eheschwur heißt. Die Augen öffnen und nach Sprache suchen, bis „der Tod uns scheidet".

Mein Chartres ist mein Wohn­zimmer, ich brauche meine Men­schen nicht einzuladen, ich weiß, sie sind schon alle anwesend, es ist gemütlich und, wenn das einer versteht, fast anspruchslos hier. Ich darf selber sein, meine Erinnerun­gen zerfließen, da gibt es keine scharfen Bilder mehr, aber Farben, Farben, und, noch einmal: die wär­mende Gewißheit des Zuhauseseins. Wenn daraus nichts werden soll, dann hätte der Teufel gewonnen, aber der Teufel gewinnt nie. Dafür ist Chartres das Unterpfand und der Beweis.

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