6907269-1980_48_11.jpg
Digital In Arbeit

Der Aufbruch

Werbung
Werbung
Werbung

Die drei in dem Roman „Türme -Protokoll einer Heilung" beschriebenen Türme illustrieren den ebenfalls darin behandelten Satz „Wir leiden nicht an der Umwelt, nicht an der Erbmasse, nicht an den Fehlern der Götter, wir leiden nur an uns selbst". Dieser Satz umreißt die ganze innere Entwicklung der Erzählperson.

Der erste Turm spiegelt die Meinung, Erbmasse und Umwelt seien schuld an dem Zusammenbruch, der zweite Turm behandelt die „Fehler der Götter", erst der dritte Turm zeigt den tatsächlichen Zusammenhang: die eigene Schuldhaftigkeit wird im Fundament des Turmes entdeckt und erst diese Erkenntnis läßt den Turm „bis an den Himmel" reichen, sodaß eine Versöhnung mit dem Vater im Himmel (der für Gott steht) möglich ist.

Der Turmbau zu Babel ist ein uraltes Symbol menschlichen Hochmuts. Der in dem Roman beschriebene letzte Turm, der tatsächlich „Bis an den Himmel" reicht, zeigt in seinem Aufbau, wie das überhaupt möglich ist: sein Fundament ist die menschliche Schuld bzw. das Schuld-Bewußtsein, sein Zweck die Tilgung dieser Schuld (im Bild: die Frau gibt das Knöchelchen, das sie aus dem Fundament gegraben hat, und das den anfänglichen Haß gegen den Vater symbolisiert, im Himmel ab). Sobald das geschehen ist, verliert der Turm seine Funktion, er verschwindet, und über der Erlösten erscheint der Morgenstern, ein biblisches Symbol der Erlösung.

Die drei Türme sind bis in die Details relevant für den A ufbau des im Verlag Styria erscheinenden Romans, aus dem die FURCHE einen Abschnitt vorstellt.

Ich war nun zehn Jahre lang hei einer Sekte gewesen und hatte, viel zu oft, ihre Ansichten konsequent vertreten, und nun fiel mich für kurze Zeit bedrängende Unruhe an: wird es mir gelingen, dachte ich, nun gerechter zu sein? Oder werde ich mich, nachdem ich die strenge Ordnung der Gesetze hinter mir gelassen habe, als haltlos erweisen und mich verlieren? Wird mich das Leben hierhin und dorthin treiben, bis ich wehrlos irgendwo zu liegen komme?

Ich sah wieder die Menschen an, die mir entgegenkamen, ich las in ihren Gesichtern, als hätte ich Bücher vor mir, und manche waren auf der letzten Seite aufgeschlagen, wo nur noch Leid stand und Sterben, manche waren wie leergebliebene Seiten, und eines fletschte mich an mit Hinterlist und Verrat, und dann endlich wußte ich es:

Von keinem derer, die mir begegneten, durfte ich einfach ein fertiges Weltbild übernehmen. In mir selbst lagen die Antworten, die ich brauchte und sie ließen sich nicht schnell und ein für allemal ergründen, nicht samt und sonders oder gar leicht, und nicht nur nach außen hin mußte man auf der Hut sein, auch das eigene Ich hatte Gefahren parat: Bequemlichkeit etwa, den Hang, über die Wahrheit hinwegzuträumen, Feigheit und die allgegenwärtige Neigung, vorschnell zu urteilen -

Ich sah Arbeit vor mir, die Welt war ein Auftrag, der auszuführen, eine Prüfung, die zu bestehen war, ich wurde befragt und hatte zu antworten. Und es gab kein Geheimrezept für wenige Auserwählte, wie man bei der Sekte meinte.

Als ich den Stadtrand erreicht hatte und die Fußgänger spärlicher wurden, drehte ich um und ging wieder zurück in die Menge, und als sie mir nun wieder entgegenkamen, geschäftig und einsam, fröhlich und verloren zugleich, wußte ich, Dada, daß ich zu ihnen gehörte, weil ich genau wie sie alle von etwas Schönerem, Besserem träumte, von Wahrhaftigkeit und der blinden Nähe der Liebe, davon, daß alle Sehnsucht einmal ein Ende hatte und ein

Licht, das nicht mehr aufhören konnte, zu scheinen, auch den letzten Schatten beschwor, nein: ich war nicht allein damit, ich stand mit jedem Gedanken, der dich zu mir holen sollte, mitten in den ältesten und schöns'ten Träumen der Menschheit. Ich dachte an den Therapeuten, der so viel Verständnis für meine Probleme gezeigt hatte, an Herta Federlein, die mir ohne jeden Dünkel entgegengekommen war, an die Schauspielerin und meine neue Freundin, und ich sah einen Turm, einen silbern schimmernden Turm aus Worten, und dachte: das wird das Protokoll meiner Heilung.

ierzehn Tage lang ging ich mit dem Gedanken um, dann zog es mich zur Schreibmaschine, die Worte strömten und die Tränen rannen, ich schrieb die Einleitung, den traurigen Anfang, der mit den Worten beginnt:

„Wenige Tage erst ist der Gedanke alt"

Die Arbeit an dem Manuskript ließ mich Tag und Nacht nicht los, wenn ich im Büro an meiner Lochstreifenstanzmaschine saß und die Buchungen eintippte, gingen mir die Sätze durch den Kopf.

Aber nach einer Woche riß der Gedankenstrom ab, und ich kam nicht weiter. Ich hatte über mein fünfzehntes Jahr geschrieben und wollte nun die Entwicklung bis zu meinem Zusammenbruch darstellen, aber der innere Widerstand war zu groß.

IIertas sechzigster Geburtstag kam heran, und ihr zu Ehren eröffnete man in einer kleinen Galerie der Stadt eine Ausstellung. Als ich die Galerie betrat, waren schon viele Zuhörer da, und zusammen mit Herta war ein Rezensent gekommen, dessen Kritiken ich schon als junges Mädchen gelesen und oewun-dert hatte - wieder einer von den Unsterblichen. Nachdem der Bürgermeister die Anwesenden begrüßt hatte, stellte sich der Rezensent neben ihn und hielt zu Ehren Hertas eine Rede, und als er zu reden anfing, entstand ein schimmernder Turm, aber er selbst stand ganz gelassen da, in einem Stei-reranzug, ohne Krawatte, kein bißchen überirdisch.

Was hatte ich denn erwartet? Er werde in seidenen Hosen kommen, der große Mann?

In meiner Freude ging ich am nächsten Tag in die Tierhandlung und kaufte ein schwarzes Meerschweinchen mit dunkelblauen Augen (eigentlich waren die Augen braun, aber die großen Pupillen schimmerten dunkelblau und von der braunen Iris war fast nichts zu sehen, Mechtilde Lichnowsky wird mich nicht erwischen!), und als ich mit dem Meerschweinchen nach Hause ging, fiel mir ein, daß ich als junges Mädchen gedacht hatte „Aus mir wird bestimmt nie eine Künstlerin, ich bin viel zu wenig verrückt", und ich fing zu lachen an, eine Frau kam mir entgegen, ein graues Hutzelweibchen, aber sie sang, ich lachte und sie sang, so gingen wir aneinander vorüber, und dann drehten wir uns beide im selben Moment um und sahen einander nach.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung