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Der Mai ist vorbei

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Sofort, als er Fiedlers korpulente Stimme erkannte, bereute es Paul, das Telefon noch nicht abgemeldet zu haben. Ör hatte gedacht, es genüge, die Rechnung nicht zu bezahlen, aber die von der Telefonzentrale zeigten eine unverständliche Langmut. In den ersten Tagen, nachdem er hier eingezogen war, hatten eine männliche und mehrere weibliche Stimmen angerufen. Er hatte dann jedes Mal erklären müssen, daß er wirklich nicht Fritz sei, großes Ehrenwort, sondern ein Freund, und Fritz sei in Südamerika.

Man hatte ihm selten Glauben geschenkt („Na hör einmal, Fritz, mach keine blöden Witze“ etc.), so daß er sich vorgenommen hatte, nicht mehr abzuheben, bis das Geklingel von selbst aufhörte. Aber er hatte diesen Vorsatz nicht durchgehalten, er war noch immer ein neugieriger Mensch, und besonders die weiblichen Stimmen schienen ihm interessant. Und vielleicht hatte er insgeheim gehofft, Silvi würde ihn anrufen und ihn bitten, nach Hause zurückzukommen. Aber Silvi hatte das nicht getan.

„Hallo, Meister!“ sagte Fiedlers Organ.

Paul haßte es, wenn Fiedler ihn Meister nannte.

„Was ist denn los mit Ihnen? Sind Sie gestorben?“

Woher, verdammt noch einmal, hatte Fiedler die Nummer?

„Sie sind mir einer!“ (Fiedler klang amüsiert). „Zuerst einen Vorschuß kassieren und dann verschwinden!“

Paul sagte nichts. Was hätte er sagen sollen?

„Hören Sie zu: Ich hab' einen Auftrag für Sie.“

Paul sah sein Gesicht im Spiegel, der über dem Telefon hing und nicht geputzt worden war, seit er diese Bude von Fritz geerbt hatte, und offensichtlich hatte auch Fritz den Spiegel lang nicht geputzt. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ihm sein Gesicht gefallen, aber die war vorbei. Nun überlegte er manchmal, ob es nicht besser wäre, wenn er es völlig zuwachsen ließe. Aber immer, wenn seine Bartstoppeln drauf und dran waren, die Abstände zwischen dem Knebelbart, den er seit Jahren trug, und den Koteletten zu überbrücken, rasierte er sie wieder ab.

Der Auftrag, einen Artikel über das Achtundsechzigerjahr zu schreiben, war ihm sofort zuwider.

„Jetzt“, sagte Fiedler, „ist die Zeit für die Retrospektive gekommen. Jetzt, wo wir wissen, Sie und ich, wie der Hase läuft. Jetzt, da wir endlich eine Tendenzwende haben...“

Was er sich vorstelle, seien zehn hübsche Normalseiten über das Jahr '68, die einen eleganten Bogen von den idealistischen Anfängen der Studentenbewegung zu deren terroristischen Auswüchsen spannten. Die Meinung des Verfassers, fügte er rasch hinzu, müsse sich keineswegs decken mit der Meinung der Redaktion oder umgekehrt, das letzte Wort habe ohnehin der Chefredakteur. Na Spaß beiseite, er lege im vorliegenden Fall sogar besonderen Wert auf persönliche Sicht, das sei ja der Grund, warum er sich mit diesem Auftrag ausgerechnet an Paul wende. Habe er doch auf dem Schutzumschlag eines verramschten Buches („Nehmen Sie's leicht...“) erst unlängst gelesen, der Autor Paul Grünzweig hätte alles Mögliche und Unmögliche studiert und im Sog der sogenannten Bewußtseinsrevolution des Jahres '68 sein Studium aufgegeben ____

Mist, dachte Paul, das hat man von seinem Image. Die Veteranen des Jahres '68 ... Die sogenannte Bewußtseinsrevolution ... Schon das Wort an sich war ein Widerspruch.

„Also mein Bester, wie gefällt Ihnen das?“ V

Das Sein bestimmt das Bewußtsein, nicht umgekehrt.

„Das muß doch für Sie ein gefundenes Fressen sein! Also wollen Sie oder wollen Sie nicht?“

Nein! Paul hätte ein deutliches Nein sagen sollen. „Ich mag eine Weile keine Artikel mehr schreiben. Prinzipiell. Und diesen Artikel schon

gar nicht.“ Aber das Neinsagen fiel ihm von jeher schwer.

Vielleicht war es seine Eitelkeit, die daran Schuld trug, vielleicht seine Feigheit. Er fühlte sich immer wieder geschmeichelt, wenn irgendein Zeitungsheini irgendwas von ihm wollte. Das war, als hätte er ständig Angebote bekommen, mit Leuten zu schlafen, die ihm eigentlich gar nicht gefielen. Er brachte es nicht übers Herz, sich die diesbezügliche Selbstbestätigung zu versagen.

Außerdem spielte natürlich die Existenzangst eine nicht unerhebliche Rolle. Heute bekam er noch Vorschüsse, aber morgen?

„Ich arbeite“, log er, „an einem neuen Roman. Und habe ein altes Drehbuch fertigzustellen.“

„Na gut, wie Sie meinen, Herr Grünzweig“, sagte Fiedler. „Ich zwinge Sie nicht. Ich könnte Sie gar nicht zwingen. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Zahlen Sie halt Ihren Vorschuß beizeiten zurück. Sie werden doch sicher nicht verklagt werden wollen? Das würde doch unserem netten Verhältnis nicht guttun. Und was den Artikel betrifft, vergessen Sie ihn. Ich glaube, den biete ich halt dem'Wüstenrot an.“

Das war der Vorteil der freien Mitarbeit. Man konnte zwar nein sagen, aber dann trug man die Folgen.

„Hallo, Herr Doktor, sind Sie noch dran?“ sagte Paul. „Ich hab' mir das überlegt. Ich schreib' den Artikel.“

Paul legte den Telefonhörer auf die Gabel zurück, allzu sanft, wie ihm vorkam, und drehte den Vivaldi, der

inzwischen im „Spätsommer“ war, ab. Er gönnte sich, obwohl ihm der Backenzahn nicht mehr weh tat, einen zweiten Schluck Slibovitz und setzte sich an den Schreibtisch. Die paar Zeilen an Silvi, die er nie abgeschickt hatte (Liebe Silvi! Ich weiß nicht, ob eine Zweierbeziehung wie unsere heute noch funktionieren kann ...), das Aerogramm an Fritz, das er hatte beenden wollen (Bester Fritz! Mag sein, es ist wirklich das Klügste, auf und davon zu fahren ...) und in der Schreibmaschine noch immer das Blatt von gestern abend:

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wäre damals Schubert nicht wieder aufgetaucht.

Seit sich Paul hierher zurückgezogen hatte, versuchte er, sich darüber klarzuwerden, wie alles gekommen war. Aber es fiel ihm nicht viel ein, er schrieb einzelne Sätze oder bestenfalls Absätze auf immer neu begonnene Seiten und verwarf sie wieder. So auch jetzt: Er zog das Blatt aus der Maschine, zerknüllte es, spannte ein neues ein. Aber er fand keinen anderen Anfang als diesen:

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wäre damals Schubert nicht wieder aufgetaucht. Es hätte nie eine Wohngemeinschaft gegeben, Wüstenrot und ich, wir wären noch heute gute Freunde, Silvi und ich, wir wären noch immer beisammen. Ich hätte mein Studium fertig gemacht und wäre ein Lehrer mit dreizehn Monatsgehältern. Oder was beißt mich, dachte er, aber so völlig abwegig war der Gedanke nicht.

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