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Der Revisor zu Besuch

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Es läutete stürmisch dreimal hintereinander.

Ich drehte mich im Bett um. Automatisch streckte ich die Hand aus. Der Wecker war nicht auf dem Nachtkästchen.

„Wie spät ist es?“

Neben mir atmete gleichmäßig meine Frau. Von neuem läutete es dreimal.

„Wie spät ist es?“ wiederholte ich meine Frage diesmal lauter. „Aaaa . Ich weiß nicht… “ „Mathilde, geh schauen, wer vor der Tür steht.“

Murrend stand sie auf und glitt aus dem Zimmer. Nach einiger

Zeit kehrte sie zurück, sie schien aufgeregt.

„Der Zeitungsausträger“, flüsterte sie.

„Und deshalb hast du mich …" „Es scheint ein hohes Tier zu sein. Auf dem Ärmel hat er drei goldene Würste. Sicherlich ist es der Oberrevisor.“

„Warum hast du mir das nicht sofort…” Barfüßig suchte ich die Hausschuhe. „Hast du für diesen Monat schon das Abonnement bezahlt?“

„Ja, natürlich.“

„Hast du regelmäßig die Zeitung aus…. na, wie sagt man schon, aus dem Briefkasten genommen?“

„Hast du nicht die Zeitung in den Dienst mitgenommen?“ „Zum Teufel!“ Die Hausschuhe waren nicht unterm Bett. „Wo sind die Hausschuhe?“ „Wahrscheinlich unterm

Bett… Er schaut freundlich aus.“

„Die Freundlichen sind die Gefährlichsten.“

Ein rothaariger gutmütiger Mann in blauer Uniform, geschmückt mit goldenen Dienstabzeichen, betrachtete im Wohnzimmer mit offensichtlichem Interesse meine Bibliothek.

„Sie lesen, sie lesen viel…" Die Stimme war in unerwartetem Widerspruch zur Erscheinung seines Eigentümers; sie war heiser, und er brachte die Worte mit Mühe hervor.

„Eigentlich nicht… Manchmal eben, vielleicht. Die Bücher kaufe ich mehr zur Zierde.“

„So wie alle“, grunzte der gutmütige Mann.

„Setzen Sie sich, wollen Sie Kaffee, ein Schnäpschen, vielleicht Whisky … Mathilde!“ „Danke, machen Sie sich meinetwegen keine Mühe. Ich kam … dienstlich.“

„Natürlich — aber warum eigentlich?“

Der gutmütige Mann bohrte seinen Blick in mich;

„Das Abonnement haben wir schon bezahlt.“

„Das weiß ich. Ich habe es in der Verrechnungsabteilung nachgeprüft. Sie zahlen regelmäßig das Abonnement, nicht wahr? Das ist gut, sehr gut.“

„Wir bemühen uns eben. Sie wissen ja “

„Schätzen Sie unsere Zeitung?“

„Ausgezeichnet, inhaltsreich, interessant, bunt, optimistisch, unterhaltend, ermunternd, in jeder Hinsicht fortschrittlich, auf unserer Linie eben folgerich tig.“

„Wenn sie so ist, wie Sie behaupten, daß sie ist, weshalb lesen Sie sie dann nicht?“

„Ich lese sie ja … Das heißt… am Morgen habe ich es zur Arbeit eilig … nach dem Essen lege ich mich kurz hin, manchmal schlafe ich ein, das heißt, ein Stündlein döse ich, aber sonst… “

„Man hat Sie angezeigt, Bürger, daß Sie der Zeitung überhaupt keine Aufmerksamkeit widmen.“

„Wer hat mich denn? … Das heißt, warum gerade mich?“

„Stimmt es?“

„Jeden Morgen blättere ich sie wenigstens durch, Ehrenwort. Ich überfliege die wichtigen Nachrichten, die Überschriften, Leitartikel, Todesanzeigen, Analysen,

Referate, Hinweise und so fort.“

„Sie lügen.“

„Hören Sie … Sie, Sie … “

„Oberrevisor der städtischen Zeitungszustellung.“

Bürger Oberrevisor der städtischen Zeitungszustellung, beleidigen dürfen Sie micht nicht. Nach dem Gesetz … das heißt…“

„Ihr offenherziges Eingeständnis vor Zeugen wird bei der möglichen Strafbemessung Ihres Vergehens als mildernder Umstand gewertet werden, seien Sie sich dessen bewußt!“

„Nun gut… Die Zeitung lese ich wirklich nicht. Sind Sie jetzt zufrieden?“

Das Gesicht des gutmütigen Mannes verzog sich zu einer Grimasse. „Und warum lesen Sie sie nicht?“

„Sagen Sie mir lieber, weshalb ich sie lesen sollte!?“ Es sprudelte aus mir wie aus einem Vulkan. „Jeden Tag ein und dasselbe. Jeden Tag. Die gleichen Worte, die gleichen Sätze, die gleichen … Nein, die gleichen, gleich durchgekauten Gedanken. Nur das Datum wird geändert. Die Zeitung ist jeden Tag von der ersten bis zur letzten Seite eine einzige Wiederholung. 365 Kopien jährlich. Sie haben nicht die geringste Phantasie Ich sage ja nichts, aber … Ja, aber Sie könnten doch ein und dasselbe Thema wenigstens variieren, improvisieren, nicht aber diese ständige Wortwörtlichkeit.

Sogar die Resultate der Fuß ballspiele wiederholen sich. Unsere Siege folgen einander am laufenden Band. Aber immer nur siegen, das ödet ja eines Tages an … Die Wettervorhersagen sind trostlos wunderbar. Echte Poesie: Tag für Tag strahlendes Sonnenwetter ohne die geringste Bewölkung, ohne den leisesten Windhauch, ohne einen Regentropfen. Ein Vermögen, ja, ein Vermögen für einen anständigen

Regen! Niemand stirbt, das heißt, er sterben nur Greise und Kranke. Es kommt eine Unmenge gesunder Kinder zur Welt… Das ist nicht zum Aushalten, verstehen Sie? … Nehmen Sie zum Beispiel die Kleinanzeigen. Alle kaufen nur, suchen, verlangen, zahlen, zahlen im voraus…Die schwarze Chronik ist nicht einmal grau. Statt Mord und Totschlag, Raubüberfällen, Diebstählen, Vergewaltigungen nur Berichte über Wohltätigkeitsveranstaltungen, Tombolas, Volksfeste, Glückshafen … Schon seit einer Reihe von Jahren nicht einmal ein Verkehrsunfall, die Korrespondenten berichten ohne Unterlaß über ein einziges riesenhaftes Verkehrsglück. Mit großen Überschriften haut man mir auf den Kopf. Worte wirft man mir in die Augen. Das habe ich einfach nicht mehr ertragen können. Machen Sie mit mir, was Sie wollen … Viel lieber wäre mir eine Zeitung, die so aufrichtig wäre wie dieses Buch hier. Ein Tagebuch! Nehmen Sie sich den Verleger zum Vorbild!“

Ich trat an die Bücherwand und nahm vom Regal das volumi- nöste Buch. Ich schlug es auf, zwischen den Lederdeckeln nur weiße unbedruckte Blätter.

„Die Zeitung habe ich bereits vor Jahren in der Volksschule auswendig gelernt, weshalb sollte ich sie immer wieder von neuem lesen?!“

Der gutmütige Mann krächzte auf: „Die Form ist wichtiger als der Inhalt!“

Da trat meine Frau mit Kaffee und Whisky auf dem Tablett ins Zimmer.

„Bürgerin Mathilde, Ihr Mann wird Sie für einige Zeit wegen der Umerziehung verlassen müssen.“ „Im Vorzimmer hängt dein Rucksack mit Wäsche und Konserven.“

„Vergessen Sie nicht die Zeitung“, befahl der gutmütige Mann noch.

An der Tür wandte ich mich um. „Aber wer, Bürger Oberrevisor der städtischen Zeitungszustellung, wer hat mich angezeigt?“ „Ihre Frau.“

Mathilde sog konzentriert mit einem Strohhalm Whisky. Nicht eines Blickes würdigte sie mich. Aus dem Slowenischen von Peter Kersehe

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