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Der Schöngeist bittet zur Kasse

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Zwei Hände kneten Teig. So stellt sich der „Steirische Herbst 78“ vor. Österreichs einziges Avantgardefestival, wie man so schön sagt. Da es das einzige ist, wird es auch subventioniert. Auch wenn der Teig, der da geknetet wird, schon sauer ist.

Trauriger, trister Herbst in Graz. Regen, Nebel. Der Bahnhof grau. Die Stadt wie ausgestorben. Nur hier und da: Plakate. Eine Männerhand knetet Teig. Gütesiegel des Steirischen Herbstes. Ich bekomme Lust auf ein Stück Brot. Es gibt nur Altbackenes. Schließlich ist Sonntag in Graz.

Grau auch die Bilder und Plastiken, die ich anschaue. In der Steier-märkischen Sparkasse. Bilder im Kassensaal, gut aufbewahrt. Bestimmt auch hoch versichert. Tresoratmosphäre. Die Moderne in einer Bank. Früher waren es die Schlafgemache der Fürsten gewesen. Aber früher hat es auch keine Avantgarde gegeben.

Ob die Grazer wissen, daß es einen „Steirischen Herbst“ gibt? Oder wundern sie sich, wenn in den Ein-

kaufszentren plötzüch eine laut schreiende Gruppe von jungen Schauspielern auftaucht und die Revolution verkündet? Mit lauten Gesten und Masken und sogenannter Publikumsaktivierung. Das Publikum will doch lieber einkaufen. Die Socken zum Beispiel, die es im Sonderangebot gibt. Ich habe mir auch ein Paar gekauft.

Die lärmende Gruppe zieht bald weiter. Ins nächste Kaufhaus. Ich nicht. Ich gehe ins Kaffeehaus. Mein Bedarf an Socken ist gedeckt. Amtliche Avantgarde in Graz. Glanzstück der Kulturpolitik. Man gibt sich avantgardistisch. Bei Eröffnungsreden wird nicht mehr über die ewigen Werte der Kultur gesprochen, sondern über eine Auf bruchstimmung in der Kunst und überhaupt. Wobei man vor allem das „überhaupt“ betont. Kulturpolitiker sind erstaunlich anpassungsfähig, wenn's um die Moderne geht.

Ein junger Dichter im Kaffeehaus. Mit dickem Schal und traurigem Blick. Er wartet auf das Literatur-

Symposion: „Literatur und Lustprinzip.“ Die Lust ist ihm vergangen. Es ist ihm kalt und er trinkt Tee. Der Ober grüßt besonders freundlich. Fragt, ob er noch ein Kipferl...? Der Dichter lehnt ab. Es geht ihm schlecht. Er tut sich leid. In dieser tristen Welt.

Ein paar Tische weiter ein junges Mädchen. Mit ehrfürchtigem Blick. „Wie experimentell der aussieht. Und so leidend.“ Sie setzt sich zum Dichter. Tröstende Worte. Vielleicht kann er doch wieder schreiben.

Im Landestheater geht's nonverbal zu. Sprachkritisch. Durch das Schweigen und die Mimik sollen Leerformeln der Sprache aufgebrochen werden. Im Theatersaal. Das Publikum lacht, und beredet mit vielen Leerformeln das Schweigen.

Open House - Alternative zur herkömmlichen Kulturkonsumation,

heißt es so schön. Man hat die Türen geöffnet und verlangt keinen Eintritt. Gratiskunst könnte man sagen. Verrauchte Atmosphäre. Jeder ist happy und die Künstler sitzen nachher im „Erzherzog Johann“ bei „Filet Leo Slezak“ und gutem Wein.

Trauriger Herbst. Nicht einmal die Blätter fallen mehr zu Boden. Ein Mädchen im Forum Stadtpark. Sie hat sich verirrt. Steht unter einem Baum. Verloren. Graz gefällt ihr, „weil es so traurig ist“.

Zwei Clowns aus Amerika bringen Aufruhr unter die Leute. Mit lasziven Scherzen, Witzen, mit bösen Gags. Dieses eine Mal schimpft man über die Avantgarde. Sowas gehört sich doch nicht! Man soll nur schön brav avantgardistisch bleiben und nicht unartig sein.

Auf dem Stadtplatz. Marktstände. Weintrauben, dunkle, saftige Wein-

trauben. Eingewickelt in Zeitungspapier. Ein Artikel: Die Avangarde in Graz. Österreichs einziges Avantgardefestival! Open House! Dämmerung von Gerhard Roth! Der Zerrspiegel des Bürgertums!

Die Trauben schmecken gut. Vor allem mit italienischem Käse. Und Weißbrot aus der Provence.

Die Theatergruppe mit der „Publikumsaktivierung“ kommt. Revolution zwischen den Marktständen. Salatköpfe rollen. Es regnet in Graz, Herbst.

Zwei deutsche Kulturtouristen fragen nach dem Bahnhof. Sie ha-ben's eilig. Sie müssen nach Frankfurt. Zur Buchmesse. „Aber zum Literatursymposion sind wir wieder da. Schlafwagen Frankfurt-Graz.“ Geschäftsreisende in Sachen Vorhut. Geht wie warme Semmeln.

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