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Digital In Arbeit

Der Traum - ein Leben?

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Lebendig steht's noch vor meinen Augen. Es war ein Tag in der vorigen Woche.

Mein katalysatorgerüstetes und trotzdem keinen Veilchenduft auspuffendes Auto stand beim Mechaniker. Zwecks Abholung strebte ich diesem zu und tat dies mit der Straßenbahn. Mir gegenüber saß in der locker besetzten Tram - der Generalsekretär einer unserer Parteien. Leibhaftig fuhr er mit diesem Verkehrsmittel offenbar zu seinem Arbeitsplatz.

Noch hatte ich mich von der Begegnung nicht ganz erholt, da erlebte ich die zweite der Art. Vor mir, am Annahmeschalter der Autowerkstatt, reklamierte der eindeutig verärgerte Boß der Gewerkschaft eine schlecht durchgeführte Reparatur. Eigenmündig tat er's, und mein Staunen verging erst, als ich mit meinem fertiggewordenen Fahrzeug bei einem Greißler vorbeikam. Mein Appetit hieß mich

stehenbleiben und mir zwei Käsesemmeln kaufen. Und wer stand bei der zweiten Verkäuferin und verlangte zwei Wurstsemmeln mit Gurkerln? Ein Minister. Er war eigenfüßig hierhergekommen und hatte sich angestellt. Beinahe vergaß ich das Zahlen, es war peinlich.

Jetzt, dachte ich, hatte ich gerade noch Zeit, mir ein schon drei Tage

umhergetragenes Rezept in der Krankenkasse vom Chefarzt bewilligen zu lassen. Dort angekommen reihte ich mich bei meinem Namensschalter in die Kolonne der Wartenden ein, und eben tat ein mir vom Fernsehen gut bekannter Staatssekretär am Nebenschalter desgleichen. Eigenhändig füllte er dann, beim Beamten angelangt, ein fehlendes Datum auf seinem For-

mular aus - ich war fassungslos.

Die Krönung des Tages jedoch wartete noch auf mich. Es war später Nachmittag geworden, und mir fiel ein, daß beim Schuster ein Paar Stiefel auf mich wartete, das ich ihm vor zwei Wochen zum Doppeln gebracht hatte. Ich ging zu ihm, öffnete die Tür, und da stand, wahrhaftig und selber, der Bundeskanzler mit zwei Halbschuhen und bat den Schuhmachermeister, ihm neue Absätze draufzuma-chen.

Nun konnte ich nicht mehr r.n mich halten. Ich fiel dem Kanzler um den Hals und rief: „Ach ja, ich hab's doch gewußt, wir leben in einer echten Demokratie!"

Hier aber, hier verläßt mich meine Erinnerung. Was jetzt geschah, weiß ich nicht mehr. Sollte ich jetzt in Ohnmacht gefallen sein? Oder, was natürlich auch möglich wäre, bin ich ganz im Gegenteil an dieser Stelle - erwacht?

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