Die Ziffernnote als ewige heilige Kuh

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Noten seien „ein feindlicher Agent im Reich des Lernens“, meinte der 2019 verstorbene Schulpädagoge Rupert Vierlinger. Warum ihre Hinterfragung kein „linkes Hirngespinst“ ist. Ein Gastkommentar.

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Noten seien „ein feindlicher Agent im Reich des Lernens“, meinte der 2019 verstorbene Schulpädagoge Rupert Vierlinger. Warum ihre Hinterfragung kein „linkes Hirngespinst“ ist. Ein Gastkommentar.

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Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) bezeichnete unlängst die Forderung nach Abschaffung der Ziffernnote als „Hirngespinst linker SPÖ-Träumer“. Kurz darauf leistete ihm der Bildungswissenschafter Stefan T. Hopmann von der Uni Wien im Standard Schützenhilfe, indem er – entgegen jahrzehntelanger pädagogisch-empirischer Kritik und erprobten Alternativen zur Ziffernbenotung – diese Forderung als „Blödsinn“ titulierte. Beiden scheint entgangen zu sein, dass diese Art der Leistungsbeurteilung in den Erziehungswissenschaften seit mehr als 50 Jahren massiv angezweifelt wird – ausgehend von dem federführenden deutschen Pädagogen Karlheinz Ingenkamp, der dazu schon 1971 (!) publizierte.

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Laut diesen zahlreichen Studien stellen Noten nämlich alles andere als eine „transparente, nachvollziehbare Leistungsbeurteilung“ dar, wie es im Österreichischen Bundesgesetzblatt heißt. Auch lässt die zunehmende Diversität der Schülerinnen und Schüler (erst recht in Inklusionsklassen) eine auf angeblicher „Messgenauigkeit“ beruhende „gerechte“ Leistungsbewertung endgültig obsolet erscheinen. Denn Noten erfüllen keine der fachlichen Bedingungen förderlicher Leistungsbeurteilung: Sie sind weder „objektiv“ (d. h. verschiedene Lehrende bewerten gleiche Leistungen sehr unterschiedlich) noch „valide“ (d. h. sie messen nicht Leistung, sondern auch Dinge wie die schichtspezifische Sprachversiertheit). Der Inns­brucker Pädagoge Rudolf Weiss etwa hat schon vor 55 Jahren in einer Studie zwei Gruppen von Lehrpersonen unterschiedliche Auskunft über die Herkunft eines zu beurteilenden Aufsatzschreibers vorgegeben. Und siehe da: Sogar in der Rechtschreibbeurteilung, wo es doch um eine simple Zahl von Fehlern ginge, setzte sich das angebliche Milieu durch: Der Schreiber aus vermeintlich gutem Haus erhielt von 40 Prozent ein Gut, der vermeintlich bildungsferne Schüler nur von sieben Prozent (vgl. Weiss 1968). Und Noten sind schließlich auch nicht „reliabel“ – gleiche Leistungen werden also nach einiger Zeit durch ein- und dieselbe Lehrperson anders benotet.

Fern von „gerechter“ Leistungsbewertung

In neuerer Zeit hat der Salzburger Erziehungswissenschafter Ferdinand Eder diese Kritik eindrucksvoll bestätigt: „Leistungen, die in der einen Klasse mit einem ‚Nicht genügend‘ verbunden sind, reichen in einer anderen für ein ‚Sehr gut‘. Und vice versa!“ (2019). Generell sagen Noten auch wenig über das Zustandekommen der Leistung aus (also etwa großer Fleiß, Schlamperei, wenig Bemühung u. a. m.). Auch ihre Prognosefähigkeit ist gering: Die in meiner Gymnasialzeit wegen schlechter Noten „Hinausgeflogenen“ etwa können fast alle hervorragende Berufskarrieren vorweisen.

Der verdienstvolle österreichische Schulpädagoge Rupert Vierlinger (zuletzt Professor an der Universität Passau) kommt nach langen Forschungen zu dem Schluss: „Ziffernnoten sind ein feindlicher Agent im Reich des Lernens.“ Und: „In jedem anderen Leistungsbereich unserer Hochkultur würde ein Instrumentarium zum Müll geworfen, wenn die Überprüfung seiner Gütekriterien zu einem ähnlichen Desaster wie bei den Schulnoten führte“ (2001). Deshalb entwickelte er das alternative Konzept der sogenannten Direkten Leistungsvorlage (DLV oder Portfolio-Konzept). Darin geht es um eine Dokumentation erreichter Ziele – also Arbeiten aus Mathematik, Deutsch, verschiedene Arbeitsblätter, Projektberichte, Listen gelesener Bücher oder gelernter Lieder, Dateien mit Dokumenten zur mündlichen Ausdrucksfähigkeit u. a. – mit dem wichtigen Schwerpunkt auf zu verbessernde Bereiche, also nicht be- oder gar entwertend, sondern förderungsorientiert.

Noten sind weder objektiv noch valide noch reliabel. Auch ihre Prognosefähig­keit ist gering.

Das hat auch weitreichende soziale Konsequenzen, fungieren doch Lehrpersonen nicht mehr als Beurteilende, sondern als Helfende und Fördernde. Auch etwas wie Schwindeln wird witzlos, weil die Schülerinnen und Schüler sich selbst betrögen. Neidische Konkurrenz um der Konkurrenz (und der Note …) willen erübrigt sich – und Eltern könnten keinen Verdacht mehr auf ungerechtfertigte Beurteilung hegen; es zählen nur die sichtbare Leistung und der individuelle Leistungszuwachs.

Und Hand aufs Herz: Wieso perpetuieren wir eine Leistungsbeurteilung, derentwegen zum Schul- und Semesterschluss hin „Krisentelefone“ eingerichtet werden, um enttäuschte Schülerinnen und Schüler vor Selbstschädigung zu bewahren? Und indirekt bestätigt ja die Politik selbst die Problematik der Noten, indem man Kindern mancherorts wenigstens in den untersten Stufen die Noten erspart.

„Krisentelefone“ gegen Selbstbeschädigung

Aber die Ziffernnote ist offenbar eine heilige Kuh konservativer Schulpolitik: Ich erinnere mich etwa an Erhard Busek als Unterrichtsminister (also nicht einen der einfältigsten aus der Politikerkaste), der aber auf die Forderung nach Abschaffung der Noten auch sagte: „Dann lernen s’ ja nix mehr!“ Nun: Das Gegenteil ist in x Schulversuchen und Alternativmodellen bewiesen. Es wäre längst an der Zeit, dass die Politik dies realisiert und einem verdienstvollen Erziehungswissenschafter wie dem 2019 verstorbenen Rupert Vierlinger – der auch für die Gesamtschule eintrat und mit der ÖVP, der er an sich nahestand, darob schwer in Konflikt geriet – wenigstens posthum insofern die Ehre erweist, als seine Forschungen nicht weiter ­beharrlich ignoriert werden.

Der Autor ist Psychologe, Psychoanalytiker und war bis 2017 Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Uni Innsbruck.

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