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Dort, wo Maria Antoinette

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Den bisher nachhaltigsten Eindruck von Versailles gewann ich am 2. September 1971 in der großen Galerie des Schlosses. An diesem Abend empfing Staatspräsident Pompidou die Teilnehmer der 59. Interparlamentarischen Konferenz. Inmitten der historischen Kulisse drängten sich die Mitglieder der Regierung, Parlamentarier aus Ost und West und die Volksvertreter der Dritten Welt in ihren exotischen Kostümen. Aber es war nicht allein diese festliche Atmosphäre, die den Abend zu einem Erlebnis machte. Im Verlauf der Zeremonie konnte man einen Sonnenuntergang bestaunen, der eines der schönsten Naturereignisse seit Jahren war. Ein riesiger roter Ball versank langsam hinter den Bäumen des gepflegten Parks. Für kurze Zeit war die Galerie des Schlosses in Goldfarbe getaucht, Strahlen sammelten sich in den Spiegeln und wurden reflektiert. Die mehr als 2000 Anwesenden, die Vertreter fast aller Nationen der Erde, verfielen minu-tenland in andächtiges Schweigen. Es war ein unvergleichlich schöner Moment.

Im berühmtesten französischen Schloß finden aber nicht nur Empfänge statt. Hier herrscht fast immer „Hochbetrieb“. Die Besichtigung der königlichen Gemächer steht fast auf jedem Damenprogramm eines Staatsbesuclis. Die deutschsprachigen Gattinnen regierender Häupter werden dabei von der einzigen deutschen Conferenciere betreut, die es zu dieser Würde gebracht hat. Frau Sigrid Kurzel-Runtscheiner mußte viele Voraussetzungen mitbringen, um in die Phalanx der Kunstsachverständigen von Versailles eingereiht zu werden. Ein abgeschlossenes Geschichtsund Kunstgeschichtsstudium, mei-' stens in der weltberühmten Ecole du Louvre absolviert, gehört ebenso zum Werdegang eines Cicerone wie die vorzügliche Kenntnis von zwei modernen Sprachen. In freier Rede muß der Kandidat sein Wissen unter Beweis stellen und im Schloß selbst einen Vortrag über ein bestimmtes Thema halten, wobei vorher nicht bekanntgegeben wird, aus welchem Milieu sich das zuhörende Publikum rekrutiert: ob Erwachsene, Kinder, Studenten...

„Man sollte bei einem Besuch vor allen Dingen die herrlichen Gärten von Le Nötre nicht vergessen“, meint Frau Kurzel-Rentscheiner. „Wenn man wegen Überfüllung nicht sofort Einlaß ins Schloß finden kann, ist ein Spaziergang in der nächsten Umgebung zu empfehlen. Eine Führung durch die verborgenen Bosquets kann leicht an Ort und Stelle organisiert werden. Dies ist besonders interessant, denn hier gab Ludwig XIV. die rauschenden Feste, die den Namen Versailles noch vor dem großen Schloßbau in die Welt getragen haben. Hier wurde zum erstenmal Mo-liere gespielt, und viele Dekorationen, die nur für einen Abend, ein Fest gedacht waren, fanden später in Stuck und Marmor ihre endgültige Verwirklichung.“

Genauso wie die Delegierten des Parlamentarier-Kongresses sehen auch die vielen Touristen, die Versailles besuchen, nur die eine Seite, nämlich den Glanz und die Herrlichkeit. Die vielfältigen Probleme, die die Erhaltung des grandiosen Bauwerkes mit sich bringt, sind vielfach nur den Experten bekannt. Nur gelegentlich dringen die mahnenden Rufe der Konservatoren an die Öffentlichkeit. Die Wiederherstellung des Schlaf gemaches der Königin Marie Antoinette, das am 16. Juni zuerst für Staatspräsident Giscard und dann für die Öffentlichkeit freigegeben wurde, beschäftigte allerdings — der besonderen Schwierigkeiten wegen — nicht nur die Kunsthistoriker, sondern wurde auch in weiten Kreisen der Bevölkerung registriert.

Vier Jahre nach dem Sturm auf Versailles waren 17,000 Kunstwerke des Schlosses öffentlich versteigert worden, wobei das Schlafzimmer Marie- Antoinettes einen für damalige Verhältnisse phantastischen Preis erzielte. Die Chefkonservatoren machten es sich in unserem Jahrzehnt zur Aufgabe, soweit wie möglich sämtliche Stücke, die in der ganzen Welt verstreut waren, zurückzukaufen. Durch jahrelange intensive Suche gelang es, Gobelins, Stühle, Vorhänge, Bilder und Nippsachen wiederzufinden. Einzelne Gegenstände wurden sogar in New Yorker Antiquariaten entdeckt. Auch das Nationalmuseum des Louvre erklärte sich bereit, aus seinen Sammlungen jene Stücke zurückzugeben, die ins Schloß gehören. So rekonstruierte man das Schlafzimmer der Königin genauso, wie sie es am Dienstag, dem 6. Oktober 1789, auf ihrer Flucht vor den aufständischen Pariser Frauen verlassen hatte. Gleichzeitig wurde das Appartement der Madame de Maintenon — es diente Jahrzehnte hindurch als Abstellkammer — vollkommen restauriert und entspricht jetzt der historischen Überlieferung.

Diese teilweise Erneuerung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Besucherscharen, die alljährlich nach Versailles pilgern und durch die Gemächer geschleust werden (am Ostersonntag dieses Jahres wurden 45.000 gezählt, zu Pfingsten waren es sogar noch mehr), eine immer größer werdende Gefahr für die Kunstschätze des Schlosses bedeuten. Die Atemfeuchtigkeit und die Ausdünstungen der Menschen erzeugen nämlich schwerste Schäden an der Stukkatur. An Tagen mit besonders vielen Besuchern wurden im Schlafzimmer der Königin schon Temperaturen von fast 50 Grad gemessen. Zudem hausen die drei Millionen Touristen, die jährlich kommen, vielfach wie die Vandalen. Da werden Namen in die Mauern und auf Statuen geritzt, und mehr als einmal wird der Versuch unternommen, als Andenken etwas abzubrechen oder abzureißen. Den Wärtern ist es untersagt, bei kleinerer Sachbeschädigung Strafen zu verhängen. Aber wenn nur jeder Tausendste seine Anwesenheit in Versailles mit seinem Namen an irgendeiner Wand für die kommenden Jahrhunderte verewigt, läßt sich ohne große Mühe ausrechnen, wie hoch der Schaden ist.

Der Staat zeigt sich übrigens keineswegs großzügig, wenn es darum geht, die Kunstschätze der Nation vor dem Verfall zu bewahren. Im Jahr werden 2 Millionen Francs bereitgestellt, und diese Gelder sind in der Regel zweckgebunden. Sie dienen meistens der Renovierung eines bestimmten Gemäldes oder Gobelins und können nicht für allgemeine Arbeiten verwendet werden.

Die Schloßverwaltung kämpft noch mit anderen beachtlichen Handikaps, So wird es immer schwieriger, Nachwuchs für denRestaurateur-Beruf zu finden. Die jungen Leute sind heute offensichtlich mehr an technischen Berufen interessiert und wenig geneigt, ihre besten Jahre in einem alten, wenn auch noch so ehrwürdigen Gemäuer zu verbringen. Gegenwärtig arbeiten in Versailles 300 Angestellte, 80 davon in den Gärten, 17 sind hauptamtliche Feuerwehrleute, die ständig in den Räumen patrouillieren.

Ein Alptraum des Konservators Lemoine ist die berüchtigte nachlässig weggeworfene Zigarette, denn die Sicherheitsvorkehrungen für den Ausbruch eines Brandes in Frankreichs meistbesuchtem Schloß werden als höchst ungenügend bezeichnet.

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