7040358-1990_14_12.jpg
Digital In Arbeit

Ein Besuch im Fundamt

Werbung
Werbung
Werbung

Wer vom Schicksal geschlagen wird, sucht sich zu verbergen. Eine Spur von diesem Schamgefühl empfindet wohl jeder, der einen Gegenstand verloren hat; er ist gestraft; die Sache ist ihm, über den Verlust hinaus, peinlich.

Sofort stellt sich auch Skepsis bezüglich der Redlichkeit aller übrigen Erdenbewohner ein: es ist sinnlos, sagt sich der Verlustträger, im Fundamt nachzufragen. Würde er selbst die Mühe auf sich nehmen, eine auf der Straße aufgelesene Kleinigkeit dorthin zu tragen, in langer Reihe zu warten, bis er dran- kommt, die Protokollierung über sich ergehen zu lassen? Wie nahe liegt die bequeme Versuchung, den Fund mit guten Vorsätzen in eine Schublade zu stecken und den Gang ins Fundamt immer wieder zu ver- schieben, bis am Ende jeder brauch- bare Termin verstrichen ist.

Ob nicht alle diese Vermutungen und Überlegungen nur ein Teil jenes leisen Schamgefühls sind, welches sich dem Verlustträger aufdrängt, welches ihn veranlaßt, sich zu ver- bergen und das Fundamt zu mei- den? Es muß wohl überwunden werden, schon allein, um einen neuen Beweis für die Amoral der Welt zu erhalten; denn ohne Zwei- fel wird der Gang vergeblich sein, und der verlorene Gegenstand ist ein weiteres Stigma für die verlore- ne Ordnung der Welt, der es - ja, man hat sich's doch selbst gerade vorgesagt - nichts ausmacht, einen gefundenen Gegenstand einfach für sich zu behalten.

Mag er dem Finder Glück brin- gen ! denkt man, und geht doch end- lich auf das Fundamt, wo der erste Eindruck der einer unabsehbaren Überfüllung ist. Viel verloren und wenig gefunden! denkt man in ei- nem gewissen übertragenen Sinn. Aber es gilt fast umgekehrt. In we- nigen Minuten, in etwa einer Vier- telstunde, werden da vier Verlust- träger gehört und mit dem tatsäch- lich gefundenen, tatsächlich abge- gebenen Gegenstand erfreut. Kei- ner ist bis jetzt noch drangekom- men, der seinen Schirm, Hut oder was immer nicht zurückbekommen hätte. Irgendwie scheint es mit der Moral mindestens der Finder doch heutzutage besser bestellt zu sein. Es sind vorwiegend Schaffner, Menschen also, die über keine rie- sigen Einnahmen verfügen. Aber die Ehrlichkeit halten sie.

Ganz leise kommt jetzt eine neue Einsicht auf: Ob nicht die Skepsis von vorhin doch ein wenig un- menschlich gewesen ist? Sie hatte sich in ihrem natürlichen Mißtrau- en so wohl gefühlt, so weltklug und human gedünkt, ja sie war bereit, den samt und sonders unredlichen Findern einen Straf nachlaß zu ver- leihen. Aber die Finder sind nicht unehrlich gewesen - so ist es eher schon der Verlustträger. Er hat ver- leumdet, hat das Schlechte gern ge- glaubt. Er stellt, so weiß er jetzt, ei- ne verderbliche Figur unseres Da- seins dar: er nimmt das Böse wie et- was Selbstverständliches hin; er ist bereit, es zu verzeihen, aber auf Kosten der Redlichen. Die schlim- men Erfahrungen haben ihn dazu gebracht, aber er bringt die schlim- men Erfahrungen auch überall hin und nährt sie gleichsam, daß sie nur immer stärkerund mehr werden. Er soll sich schämen! Und er tut es auch.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung