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Ein recht sonderbares Frühjahr

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Heuer scheint dem Wachsen kein Ende zu sein. Die Blumen werden größer und größer, die Grashalme werden länger und länger, ja sogar die Dicke der Baumstämme scheint von Tag zu Tag zuzunehmen. Ich sehe das alles, bin mir aber dabei voll und ganz bewußt, daß das alles anders enden wird, als es begann. Nach einem heißen Sommer wird es einen samen-und früchteverstreuenden Herbst geben und dann kommt der Frost. Aber einstweilen wächst ja noch alles. Von der Taufe zur Firmung, von der Krankenölung zur Totenmesse. Aber bitte! Einstweilen wächst ja noch alles.

Wieso haben manche der Bäume keine Blätter? Es ist doch zum Blätterkriegen schon spät im Jahr. Vielleicht bekommen sie keine mehr?

„Wie traurig ist es, tot zu sein", sage ich. „Es ist überhaupt nicht traurig", sagt der tote Baum. „Es wird ganz und gar nicht traurig sein", sagt die Blume neben mir. „Was ist das, tot", fragt der tote Vogel, der nicht weit weg von mir liegt und eine Weile vorher noch lebte. „Wie tröstlich", denke ich, „er weiß es nicht."

Ich gehe einige Schritte weiter. „Arbeite!", sagt eine Ameise. „Wozu?" erkundigt sich die Fliege. „Wer von uns beiden lebt länger?", sagt die Ameise. „Das hat doch damit nichts zu tun!", antwortet die Fliege. Einer der dicken Frühjahrsvögel steht daneben und scheint beiden recht zu geben. Nach einer Weile sehe ich nur mehr den Vogel, der mir nun aber noch dicker zu sein scheint.

Da klopft ein Specht am toten Baum. „Der da scheint gar nicht tot zu sein", meint der Specht, „zumindest regt sich ganz schön viel Gewürm unter seiner Rinde." Das monotone Klopfen des Spechtes behagt einem Storch. „Endlich ein Element von Regelmäßigkeit in diesem Durcheinander", sagt er. Dann baut er weiter an seinem Nest, das er kunstvoll auf einen Schornstein aufsetzt. „Ich hoffe, das Haus ist unbewohnt", sagt der Storch. „Sei beruhigt", sage ich, „du hast die Friedhofskapelle erwischt. Niemand heizt hier, zumindest den ganzen Sommer hindurch nicht. Und im Herbst bist du in Afrika." „Afrika!", seufzt der Storch. Mir scheint, er weiß nicht, wozu er hergekommen ist. „Vielleicht, um zu sterben", sagt er. Er hat meine Gedanken gelesen. Ein sonderbares Tier. „Wieviele Kilometer noch bis zur Grenze?" fragt ein Hase, in seinem schnellen Lauf innehaltend. „Zu welcher?", frage ich. „Du hast scheinbar keine Ahnung, worum es geht!", ruft er mir zu und läuft weiter. „Mach dir nichts draus!", sagt die Ameise zu mir. „Arbeite!"

Ein sonderbares Frühjahr, denke ich und blicke dem Hasen nach. Der ist inzwischen kaum noch zu sehen am Horizont. „Mach dir nichts draus!", sagt eine Stimme neben mir. Ich blik-ke zur Seite und sehe eine dicke gelbe Blume. Während ich hinschaue, verwelkt sie. Vielleicht hätte ich sie pflük-ken sollen? „Pflücken?", sagte ich laut. „Pflücken, damit sie unter meinen Händen stirbt?" „Eigentlich ist sie jetzt auch tot", ruft ein Frosch, der eben aus seinem Tümpel auftaucht. Aber gleich ist er wieder weg. Der Storch ist auch nicht weit.

Da steigt eine Lerche aus der Wiese auf. „Warum so hoch?", ruft der Specht. „Hieroben muß ich nicht mehr denken!", ruft sie zurück. „Hieroben genügt es mir, zu singen!" „Ein sonderbares Tier", sagt der Specht und klopft weiter auf die Rinde des toten Baumes. „Jetzt denke ich doch schon zwei Jahre!", sagt eine Kröte am Ufer des Baches. „Eigentlich müßte ich bald zu einem Ende kommen!" In dem Moment höre ich einen Kanonenschuß. Ich blicke änstlich um mich.

Nein! Es war kein Kanonenschuß, es war nur die Kröte. Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, ist sie mit einem kanonenschußartigen Geräusch zerplatzt. „Ich danke, ja, ich danke, daß es nicht nur Lerchen gibt!", sagt der Storch und verspeist die noch auffindbaren Reste der Kröte.

Mich hat dieses Geräusch des Zer-platzens der Kröte tief in der Seele beunruhigt. Ich mache mich auf den Weg. Waiirend ich so langsam dahingehe, denke ich über das eben Erlebte nach. Nimmt man alles zusammen, so meine ich, dann haben wir heuer doch ein recht sonderbares Frühjahr.

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