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Falscher Hase

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Nichts Ungewöhnliches eigentlich, daß mir an einem Ostersamstag plötzlich Zweifel kamen. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als mein Verstand die ersten Knospen logischen Denkens zeigte.

Der Osterhase legte die Eier immer so früh am Morgen, daß wir Kinder ihn nie zu Gesicht bekamen. Ich half meiner Mutter bei den Vorbereitungen für das Fest. Mit einer Speckschwarte durfte ich den gefärbten Eiern noch ein wenig Feiertagsglanz aufpolieren und sie in die buchsbaum-gepolsterte Schale legen. „Wir müssen dem Osterhasen helfen", hatte meine Mutter gesagt, „er schafft das nicht alles alleine." Und da ich meine Hilfsbereitschaft sicher von ihr geerbt habe, half ich mit großem Eifer. Später, gegen abend, holten wir einen Onkel vom Bahnhof ab. Er wollte über die Ostertage bei uns sein. „Schau mal", sagte er, als er seinen Koffer auspackte, „der Osterhase hat schon ein Geschenk für dich gelegt" und überreichte mir ein großes viereckiges Paket. Ich hatte mir schon lange eine Armbanduhr gewünscht und hoffte insgeheim, der Osterhase würde sich daran erinnern. Er legte jedes Jahr außer den Eiern noch ein hübsches kleines Geschenk ins Nest. Ich packte die Schachtel neugierig aus -und war maßlos enttäuscht. Zum Vorschein kam ein häßlicher großer Wecker mit römischen Zahlen, die ich noch gar nicht entziffern konnte. Blöder Osterhase, dachte ich. Aber im selben Moment kamen mir Zweifel. Wie kann ein Osterhase so ein eckiges und noch dazu so großes Ding legen? Schließlich hatte ich schon Hühnern beim Eierlegen zugeschaut, hatte auch Hasen aus der Nähe betrachtet und an der entscheidenden Stelle keine auffallenden anatomischen Unterschiede festgestellt.

Jetzt stand es für mich fest, der Onkel hatte mich belogen. Ich sagte zwar nichts, war aber so beleidigt, daß ich beschloß, dem falschen Osterhasen auf die Spur zu kommen. Übrigens bin ich sicher, daß ich dies damals nicht getan hätte, wenn in dem eckigen Karton eine Armbanduhr gelegen hätte. Erst die Enttäuschung machte mir bewußt, daß man mich für dumm genug hielt, die Geschichte mit dem Osterhasen zu glauben. Das Wort Enttäuschung beinhaltet ja schon, daß man getäuscht, belogen oder betrogen wurde. Von da an entdeckte und entwickelte ich detektivische Talente bei mir, die so manchem ausgebildeten Kriminalisten Konkurrenz machen könnten.

Seit ich an jenem Ostersamstag meinen Onkel scheinheilig bat, den Wecker probeweise auf sechs Uhr zu stellen, mir die Einstellung merkte, um sie am nächsten Morgen zum Wecken zu benutzen, seit ich damals in der Frühe, barfuß hinter der Gardine versteckt, meinen Vater im Garten mit den Ostereiern sah, seitdem habe ich schon so manchen falschen Osterhasen entlarvt.

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