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Heimkehr nach Mähren

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Mit dem Roman „Ahnenpyramide” hat die Autorin ihre Beschäftigung mit der Vergangenheit begonnen. Eine Fortsetzung bietet ihr neues Buch „Heimatsuchen”, das demnächst im Verlag Styria erscheint.

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Mit dem Roman „Ahnenpyramide” hat die Autorin ihre Beschäftigung mit der Vergangenheit begonnen. Eine Fortsetzung bietet ihr neues Buch „Heimatsuchen”, das demnächst im Verlag Styria erscheint.

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Die Blätter sind schon von den Bäumen gefallen, sagt Vera N., eine Schulfreundin Valeries, als sie erzählt, wie sie im Spätherbst 1945 von Wien weg nach Hause, also nach B., zurückgegangen ist, weil sie den Hunger ihrer Kinder nicht mehr mitansehen konnte.

An der Grenze ließ man Deutsche nicht mehr passieren, wer aus dem Gebiet der Tschechoslowakei nach Osterreich wollte, mußte es heimlich bei Nacht über die sogenannte grüne Grenze tun, die auch in umgekehrter Richtung unbefugt überschritten wurde.

Heimweh war bei diesen gefährlichen Visiten nicht im Spiel. Ehemalige Dorfbewohner kamen, um winzige Reste ihrer Habe zu holen, die sie bei Freunden oder in verborgenen Winkeln, die nur ihnen bekannt waren, versteckt hatten, Dinge, die ihnen unentbehrlich waren und für die sie ihr Leben riskierten, einen Wintermantel für ein Kind, ein Federbett, ein kleines Schmuckstück, für das man Eßbares eintauschen konnte, manche brachten auch Lebensmittel mit, wie Vera, die im Obstgarten des Elternhauses Zucker und Schmalz vergraben hatte, nun wieder über die Grenze ging, um auszugraben, was sie so notwendig brauchte.

Vera hat damals von ihrer noch in B. lebenden Mutter, von noch dort lebenden Freunden, Lebensmittel für ihre Kinder über die Grenze nach Wien gebracht. Die Geschichte soll deshalb erzählt werden, weil sie beweist, daß in dem viele Jahrhundert währenden Miteinander der beiden Völker auch Bindungen entstanden waren, die von der großen, furchtbaren Welle des Hasses nicht berührt worden sind.

Die Blätter sind schon auf den Straßen gelegen, sagt Vera, es war schon kalt. Es muß Anfang November 1945 gewesen sein.

Sie beschreibt, wie sie über die Grenze gegangen, ohne Fahrkarte ein Stück mit einem Zug gefahren, von diesem Zug in einer Bahnstation abgesprungen ist — Deutsche durften ja nicht in Zügen fahren, und sie habe ja auch kein Geld gehabt -, wie sie schließlich, spät abends, in ihrem Heimatort B. angekommen ist, es nicht gewagt hat, sofort ihre noch dort lebende Mutter aufzusuchen, sich im Kuhstall des Hauses, das ihnen früher gehört hatte, versteckt hat, wie ihr die Kuh, die sie erkannt hat, mit der Zunge das Gesicht geleckt hat. Sie habe sich ins Grantl gelegt, so wurde in B. der Futtertrog der Tiere genannt. Wie plötzlich ein Mann im Stall gestanden, ihr mit einer Laterne ins Gesicht geleuchtet hat. Wie sie erschrocken ist.

Ich weiß nicht, sagt sie, ob man innen auch blaß werden kann, aber ich habe das Gefühl gehabt, nicht nur mein Gesicht und meine Haut, auch meine Eingeweide und mein Blut mußten blaß geworden sein.

Sie hatte im Stall abwarten wollen, bis sie sicher sein konnte, daß alle Bewohner der Umgebung in ihren Betten lagen und schliefen, dann hatte sie den Stall wieder verlassen, zu ihrer Mutter gehen wollen. Jetzt stand plötzlich ein Fremder vor ihr.

Der Mann habe sie gefragt, was sie hier zu suchen habe und wie sie heiße. Sie nannte ihren Namen, er kannte sie. Er sei, sagte er, der neue Hausbesitzer.

Dann geschah das Wunder, sagt Vera, der Mann habe ihr nicht gedroht, sie anzuzeigen, er habe ihr im Gegenteil ein Nachtlager im Haus angeboten. Er habe noch Federbetten von ihr, sagte er, die könne sie haben, er brauche sie nicht.

Sie sei mitgegangen, es sei ihr ja nichts anderes übriggeblieben.

Das Gefühl, wieder im eigenen Haus zu sein, das ihr doch nicht mehr gehört habe. Es sei besser, nicht darüber zu sprechen.

Am nächsten Morgen sei sie, noch ehe es hell wurde, zu ihrer Mutter gegangen, die noch im eigenen Haus gewohnt habe, und habe sich bei ihr versteckt. Nachts seien sie in den Obstgarten geschlichen und hätten nach dem Zucker und nach dem Schmalz gegraben. Die Mutter habe mit einer Kerze geleuchtet, sie, Vera, habe gegraben. Vor Angst habe die Mutter so gezittert, daß sie die

Kerze kaum habe halten können. Sie hätten den Zucker und das Schmalz unbeobachtet ins Haus gebracht.

Soweit ist die Geschichte verlaufen wie andere, ähnliche Geschichten, die manchmal, wenn Leute aus dem Grenzgebiet einander begegnen, erzählt werden, obwohl schon die Tatsache, daß der neue Besitzer von Veras Elternhaus, aber auch dessen Frau, sich der Gefahr ausgesetzt hatten, selbst wegen Beherbergung einer Deutschen angezeigt zu werden, bemerkenswert ist. Es hätte ihnen, ebenso wie Vera, übel ergehen können, wäre die Sache verraten worden.

Noch erstaunlicher wird diese Geschichte in ihrem weiteren Verlauf. Durch die Art, wie sie sich fortgesetzt hat, wird Veras heimlicher Besuch in der Heimat zu einem Fall, der in seiner Besonderheit als Einzelfall zu sehen ist und der sich doch in eine Anzahl von positiven Begebenheiten fügt, die sich inmitten der großen Tragödie ereignet haben. Wie winzige Lichter leuchten diese Geschichten auf, wenn sie erzählt werden, eines hier, eines dort.

Vera hatte den Mut, eine Jugendfreundin aufzusuchen, die wiederum einen Müller kannte.

Meine Kinder in Wien haben Hunger, sagte sie, beschaffe mir bitte ein Kilo Mehl oder zwei, wenn du kannst. Die Freundin meinte, sie würde sehen, was sie tun könne. Am nächsten Tag brachte sie Mehl, aber nicht ein oder zwei Kilogramm, sondern einen Fünfzigkilosack, sagt Vera, sie habe gedacht, sie träume. Die Freundin habe das Mehl auf einem Schubkarren rückwärts in den Garten der Mutter gebracht. Auch Kartoffeln würde sie bekommen, sagte die Freundin, am nächsten Tag stand ein Sack, prall mit Kartoffeln gefüllt, im Hof.

Wie soll ich das über die Grenze bringen, fragte Vera, aber die Freundin meinte, das würde geregelt werden.

In der Nacht darauf sei sie zum Haus dieser Freundin unterwegs gewesen, es sei stockfinster gewesen, ein Fenster habe sich geöffnet, eine Stimme habe leise ihren Namen gerufen, gleich darauf sei jemand aus dem Haus gekommen, habe sie am Arm genommen und in den Flur gezogen.

Ich habe zu meiner Schwester gesagt, das kann nur Vera sein, ich kenne sie am Schritt, sagte die Frau, ebenfalls eine Bekannte, die früher einen kleinen Laden gehabt hatte, Vera hatte oft bei ihr eingekauft.

Was brauchst du, sagte die Frau, wenn ich es habe, gebe ich es dir.

Vera sagte, sie hätte nichts in Wien, keine Gewürze, keine Zwiebeln, keinen Knoblauch, keine Butter, kein Brot.

Eine halbe Stunde später habe sie das alles gehabt, einen großen Karton voll mit Lebensmitteln, Gewürzen, einen Sack mit Zwiebeln.

Eine Woche lang, sagt Vera, sei sie in B. bei ihrer Mutter gewesen, sei nur spät abends oder nachts aus dem Haus gegangen, die Mutter sei vor Angst schon halb tot gewesen, dann habe ihr die Schulfreundin sagen lassen, es fahre ein Lastwagen über die Grenze, man würde ihre Sachen aufladen und hinüberbringen. Tausend Kronen habe der Mann mit dem Lastwagen für die Fuhre verlangt, sie selbst habe nicht eine einzige Krone gehabt, sie wisse bis heute nicht, wer das Geld für sie gegeben habe.

Auch was der Fahrer dem Grenzpolizisten gegeben, womit er erreicht habe, daß er die Grenze passieren durfte, daß man sie selbst nicht vom Wagen geholt habe, wisse sie nicht. Sie sei nicht der einzige Fahrgast gewesen, noch andere seien mitgefahren und unbehelligt nach Österreich gekommen.

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