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Herbstliche Begegnung

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Vor einigen Augenblicken ist er aus dem Haus getreten, stand dann auf der großen Terrasse, die Marmorplatten am Boden waren schon rauh geworden und vergilbt in den Stürmen vieler Winter, in der Sonnenglut des Sommers, er blickte über den Garten, zuerst die Wiese, das hohe Gras kaum gepflegt, Unkraut dazwischen, seine Eltern waren froh, noch die Lebensmittel besorgen zu können, Bedienstete gab es schon lange nicht mehr im Haus, er setzte sich in einen der alten Lehnstühle, uraltes Geflecht aus Weidenruten und aus der Zeit der Jahrhundertwende, er merkte den Duft der Wiese, ein traurig stimmender

Geruch eigentlich und schon irgendwie herbstlich, vertrocknendes Gras, ein wenig Moder sogar vom schilfumstandenen Teich — ja, dieses Haus meiner Jugend, das Landpalais, wie es früher oft scherzhaft genannt wurde, die letzten hundert Jahre scheinen hier vergessen oder nie vorbeigegangen, und die Eltern? - sehr aufrecht, immer mild, oft auch noch humorvoll — ich bin der letzte Geheimrat der Welt, hatte sein Vater vor kurzem erst gesagt, im Ruhestand natürlich, kennen Sie vielleicht einen anderen?

Ja, hatte der Vater fortgesetzt, meinen Sohn kennen Sie doch auch, natürlich, den Privatgelehrten, vielleicht auch er der letzte in dieser fremden Welt, in der wir leben müssen, Kunsthistoriker ist er, gotische Tafelmalerei, Genaueres über die Donauschule, er ist sehr fleißig in der Stadt — wann ein Buch kommt? das weiß ich nicht; ob es schon eines gibt? nein, das nicht, aber Artikel in Fachzeitschriften; wann die letzte Arbeit erschien? naja^das habe ich eigentlich vergessen —, so hatte der Vater während des Nachmittags noch dem pensionierten Hofrat M. samt Gattin erzählt.

Dann spürte ich wieder den Geruch des vertrocknenden Grases, den Schilfmoder vom Teich. In der vom Wiesenboden aufsteigenden Kühle des Abends begann ein Vogel zu singen, zarte, langgezogene Töne, sanft und nie schrill, wie es eben sein soll in so einem Garten und vor so einem Haus. Später hörte er ein eigenartiges Summen, laut, fast drohend, er wurde sofort ängstlich — ein großes Insekt? eine Hornisse? —, es war aber bloß eine der üblichen langbeinigen Mücken, und mit ungeheuer schnellem Flügelschlag stand das Tier vielleicht einen halben Meter von ihm entfernt in der Luft.

Ich weiß, daß das verrückt ist, aber ich meine, die schaut mich an, jedenfalls ist das eine der Mücken, die während des Sommers unten am Teich nisten und sich bei günstigem Wetter unendlich vermehren — aber so spät im Jahr? die Abende sind doch schon empfindlich kalt -, eine von den letzten Standhaften muß das sein, eine, die noch Eier legen will vor dem Winter und die Kraft dazu braucht, wozu sollte sie sonst unterwegs sein?

Kann man von einer Mücke in den Sessel gebannt sein? Wieso sitze ich da und starre dieses winzige Tier an? - warum verjage ich es nicht? Im nächsten Augenblick schon beobachtete er, wie die Mücke langsam näher kam, — sie schätzt mich ab, begutachtet mich, Gott sei Dank, daß ich diese leichte Jacke trage, aber die Hände sind doch frei. Dann saß er ganz still, wartete und wußte, daß sich die Mücke auf seine linke Hand setzen würde, da kam sie schon, landete sanft am Handrük-ken zwischen Daumen und Zeigefinger, er nahm seine Brille, um besser sehen zu können — bald erforschte die Mücke das Gelände, fand schließlich eine Pore, die ihr zusagte, stemmte ihre dünnen Beinchen fest auseinander, und aus ihrem winzigen Kopf kam plötzlich dieser unglaublich lange Rüssel.

Er spürte keinen Schmerz, gebannt schaute er, sah den Rüssel in seine Haut eindringen, sah das kleine Tier saugen, beobachtete, wie der eben noch dürre Leib wuchs, bald rosafarben schimmerte, durchsichtig wurde und hellrot; um einiges mühsamer als die Mücke vorher gekommen ist, hob sie nun ab, gesättigt, schwer, zufrieden ob der neuen Kraft.

Er stand auf, sah den winzigen roten Fleck auf seiner Hand, kaum der Rede wert — aber ich? habe ich eben zum ersten Mal während meines Lebens etwas Nutzvolles getan? Warum kommt mir jetzt der alte Pfarrer meiner Kindheit in den Sinn? „Gib, und auch dir wird gegeben in gehäuftem Maß und überquellend.“ Er ging zur Wiese hinunter, wandte sich um, sah die Sonnenuhr an der Wand und über der Terrasse, natürlich zeigt sie jetzt nicht die Zeit, die Sonne ist doch schon hinter den Bäumen verschwunden. Und ich?

Er wandte sich nochmals um, blickte über die Wiese und den Garten, die wenigen Wolken am Himmel waren dunkelblau geworden. Ohne es zu wollen, dachte er weiter. Und ich? Ich weiß schon, eben vorhin war ich zum ersten Mal nützlich in dieser Welt, einer ganzen Generation von Mücken habe ich das Uberleben ermöglicht.

Dann lachte er, war aber bald wieder still, erinnerte sich wieder — „Selig sind die Sanftmütigen, widersetzt euch nicht, gebt jedem, der kommt“-, verließ den Garten, betrat das Haus, verabschiedete sich von den Eltern — so eilig hast du es plötzlich? ja - dann schloß er die Türe hinter sich und ging langsam hinunter zum Schilf.

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