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Keine Komtessenlektüre

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Nein, hier begegnen wir nicht der Kindheit Ernst Jüngers in selbstbiographischer Aufmachung, sondern einer in die Farben seiner Kindheit getauchten Erzählung, einer sehr einfachen, unmanierierten Rücksendung in eine Welt jugendlich-tragischer Konflikte, die im wesentlichen doch eine heile Welt bleibt. Das alles ist eine Überraschung für die Verehrer Ernst Jüngers, die schon rein stilistisch hier einem „geläuterten“ Autor begegnen, bar aller Verschnörkelungen — „ent-barockisiert“ ist man versucht zu sagen —, obwohl da und dort die Eigenart des alten Meisters unvermutet hervorbricht.

Ein Erlebnis — schon deshalb, weil dieses Buch keineswegs „kastriert“ oder als Komtessenlektüre angelegt wurde, sich aber dennoch nicht nur in der Diktion, sondern auch inhaltlich so unerhört wohltätig von der heutigen Romanproduktion abhebt. Herbert Eisenreich hat uns gesagt, daß hierzulande die Literatur nur mehr „Transportmittel persönlich verfärbter Ideologie oder Experimentierfeld für Sprachgestörte“ darstellt. Das trifft nun keineswegs zu auf „Die Zwille“ — ein bei uns ungebräuchliches Wort für eine Steinsohleuder. Sie spielt in der Hand des Sohnes eines Müllerknechts, den glücklich-unglückliche Umstände in eine größere Stadt verschlagen, eine fatale Rolle. Dort ist der verwaiste Knabe im Hause eines Professors als Zögling untergekommen und besucht das Gymnasium. Die Umstellung des noch nicht einmal zum Jüngling Herangewachsenen von der meisterhaft geschilderten dörflichen Umgebung Niedersachsens zum Leben in der Stadt mit ihren Gloriolen und ihren düsteren Schattenseiten wird liebevoll geschildert. Das stille Leiden eines sehr einfachen, geistig nicht sonderlich begabten Kindes wirkt mit magischer Kraft auf den Leser ein. Clamor (so heißt der junge Held) gerät ganz unter den Einfluß des viel älteren, verschlagenen und begabten Pastorensohnes Teo, einer geradezu mephistophelischen Figur. Das bringt Clamor in eine hoffnungslos schwierige Lage, aus der ihn aber menschliche, verständnisvolle Güte befreit, ja in gewissem Sinne sogar erlöst. Dies ist die vordergründige Geschichte, die Fabel, hinter deren manchmal traumhaft anmutender Fassade sich eine sehr konkrete Lebensphilosophie verbirgt.

Es wäre unklug, dem Leser weitere Einzelheiten zu verraten und ihn so um die Spannung zu bringen. Es soll der Hinweis genügen, daß hier endlich einmal auf dem Romanmarkt das Buch eines „Großen“ erscheint, der denen, „die Mut zur Muße haben“, etwas geben und mitgeben kann. Denn nach der Lektüre dieses Romans, der langsam genossen werden sollte, wird man erst gewahr, in welcher literarischen Wüstenei wir schon seit langem leben. Es bedarf der Kraft einer unserer letzten Leuchten, um uns aus dieser Hungersteppe herauszuführen. Dafür sollte man ihm aus vollem Herzen danken.

DIE ZWILLE, Roman. Von Ernst Jünger, Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart 1973, 329 Seiten, Ganzleinen, DM 30.—.

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