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Musik am Genfersee

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Aai dem schon sehr südlich wirkenden Ufer des Genfersees, wo sich wie kaum an einem anderen Ort der Welt so viele Zelebtrjtäten angesiedelt haben oder vorübergehend weilten, findet jeweils im September ein Musikfest von besonderer Art und Qualität statt. Heuer war es das 31. und dauerte bis zum 5. Oktober.

In jedem Herbst sind Montreux und Vevey Treffpunkt großer Chöre und Orchester: der Symphonieorchester aus München, Stuttgart, Bamberg und Preßburg. Von den Vokalensembles sei nur der Londoner Monteverdi-Chor hervorgehoben. Unter den Kammermusikvereinigungen dominierten heuer die Trios, und natürlich treten auch Solisten mit ihren Begleitern auf. Die Programme reichen von frühen Madrigalisten und Orgelkomponisten bis Ravel und Prokofieff. Weiter nicht. Das hat seine besonderen Gründe. Denn der künstlerische Leiter dieses Festivals, Professor Rene Klopfenstein, selbst Dirigent, ist auf Neuestes nicht versessen. Er muß für volle Säle sorgen. Es steht ihm, summiert aus Beiträgen von etwa zwei Dutzend Stadtgemeinden, Unternehmen, Banken und Privatmäzenen, ein Gesamtbudget von nur 40.000 Franken zur Verfügung. Damit muß er auskommen — und er bringt es fertig, für diese Summe nicht weniger als 26 erstklassige Konzerte zu bestreiten, die sich in diesem Jahr dadurch auszeichnen, daß in zwölf von ihnen ein Werk von Joseph Haydn auf dem Programm stand (dessen Symphonien ja bei uns meist nur als „Einspielstücke“ verwendet werden).

Hier stand, als „Großveranstaltung“, „Die Schöpfung“ sozusagen im Mittelpunkt. Auch unter den Interpreten war Wien nicht nur gut, sondern auch hervorragend vertreten. Chor und Orchester für Haydns Hauptwerk kamen aus Süddeutschland und wurden von Wolfgang Gönnerwein geleitet (die Solisten waren Helen Donath, Adalbert Kraus Kurt Widmer). Die verschiedenen Trios hätten Gelegenheit zu interessanten Vergleichen gegeben — wenn man sich vier Wochen in Montreux hätte aufhalten können. So möchten wir, von Gehörtem, die Palme dem Wiener Haydn-Trio zuerkennen, das nicht nur seinen Schutzpatron und Schubert authentisch interpretierte,sondern auch ein frühes Trio Ravels von 1914 brillant spielte, und zwar im prunkvollen Festsaal des Hotels Montreux-Palace, . übrigens dem ständigen Aufenthalt von Wladimir Nabokov (der nicht nur Buch und Film „Lolita“ geschrieben hat, sondern noch einiges andere, dem Herders Literaturlexikon zwei Spalten widmet).

Überhaupt ist dieses Seeufer voller Reminiszenzen. Ansermet war Leiter der Kurhauskapelle von Montreux. Strawinsky hat in Vevey seinen „Sa-cre“ instrumentiert, Hindemith hatte hier sein letztes Domizil und sein Grab in Blonay-St-Legier, oberhalb von Vevey, und in dem Vülenvorort von Montreux, Ciarens, wohnte nach dem Krieg Wilhelm Furtwängler, jetzt seine Witwe. Ganz in der Nähe hat sich Charlie Chaplin niedergelassen. Vom berühmten Schloß Chillon (an dem vom 9. bis zum 15. Jahrhundert gebaut und umgebaut wurde und das durch den Besuch Lord Byrons sowie dessen Beschreibung seiner Verliese bekannt geworden ist)sind es nur wenige Gehminuten nach Territet, wo Schönberg den zweiten Akt von Moses und Aron vollendete, unterhalb von Caux, dem letzten Aufenthalt der Kaiserin Elisabeth, bevor sie nach Genf und in ihren Tod fuhr. Eine knappe Viertelstunde nach Chillon, auf der einzigartigen, sieben Kilometer langen Promenade, kommt man nach Villeneuve, wo sich schon seit vielen Jahren Oskar Kokoschka niedergelassen hat.

Doch kehren wir zu unserem Musikfest zurück. Neben den Aufführungen in diversen Konzertsälen oder als solche umfunktionierten Räumen gab es auch einen Zyklus mit dem poetischen Titel „Splendeur des cuivres et orgue“ in der Kirche Saint-Martin in Vevey. Hier spielten Marie Ciaire Alaidie, Schwester des frühverstorbenen Komponisten Jehan Alain; hier musizierten der Londoner Monteverdi-Chor mit dem Equale Ensemble unter John Elliot Gardener; und hier spielte — für mich das schönste Ereignis dieser Musiktage — der junge französische Trompeter Andre Bernard, von Jean-Louis Gil an der Orgel begleitet, u. a. den Bach-Choral „Jesus, meine Freude ...“ Etwas Vollkommeneres ist kaum vorstellbar ...

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