6882625-1979_15_06.jpg
Digital In Arbeit

Niemand konnte sich wehren

19451960198020002020

Ministerialrat i. R. Franz Diwisch, ideal gesinnter Christ und Sozialist, beantwortet auf Grund seiner Kriegserleb' nisse die Frage, warum sich die Juden ohne Gegenwehr ermorden ließen. Was er zu diesem Thema zu sagen hat, gilt aber nicht nurfiir die jüdischen NS-Opfer. Auch die Kinder, die in Argentinien verschwinden, „haben sich nicht gewehrt“, ebensowenig wie die von der sowjetischen Administration zwangsverschickten, eingekerkerten oder in Irrenhäuser gesteckten Dissidenten ...

19451960198020002020

Ministerialrat i. R. Franz Diwisch, ideal gesinnter Christ und Sozialist, beantwortet auf Grund seiner Kriegserleb' nisse die Frage, warum sich die Juden ohne Gegenwehr ermorden ließen. Was er zu diesem Thema zu sagen hat, gilt aber nicht nurfiir die jüdischen NS-Opfer. Auch die Kinder, die in Argentinien verschwinden, „haben sich nicht gewehrt“, ebensowenig wie die von der sowjetischen Administration zwangsverschickten, eingekerkerten oder in Irrenhäuser gesteckten Dissidenten ...

Werbung
Werbung
Werbung

„Sagen Sie, warum hat sich keiner von all den Juden gewehrt?“ wollte Elisabeth Orth wissen - wie es sich in einer friedlichen Atmosphäre eben leicht dahinplaudert (FURCHE, 14. März). Man hört von sechs Millionen Juden, die vergast und verbrannt wurden... Ja, wie kam es wirklich, daß sich keiner gewehrt hat?

Wer kann sich heute diese Zeit vorstellen? Niemand, der sie nicht selbst erlebt und erlitten hat. Man bedenke, daß man keinem Menschen, keinem Hausmeister trauen konnte, überall lauerten Spitzel, die sich eine Ehre daraus machten, andere anzuzeigen. Täglich verschwanden Menschen auf Nimmerwiedersehen, gnadenlos. Nicht nur Juden, Tausende politische Gegner, mißliebige Menschen, die sich am falschen Ort unvorsichtig äußerten, würden in der Nacht aus den Wohnungen geholt und ins KZ gebracht.

Alsf wir Wehrmachtsangehörigen in dem strengen Winter 1941/42 in Enns den Lkw-Kurs machten, schauten wir voll Schaudern hinüber nach den Mauern des Konzentrationslagers

Mauthausen. Wir wußten von den Greueln der Nazi. Einige von uns gingen heimlich hinüber und brachten die Kunde von dem furchtbaren Gestank der vergasten Menschenleichen, die man hernach verbrannte. Wer kann sich vorstellen, daß es niemand wagte, darüber offen zu reden? Wir wußten, der und der ist ein Nazi, vor dem müssen wir uns hüten! Einer von uns ist plötzlich verschwunden, keiner wußte wohin, und er kam nie wieder.

Irgendwo mitten im Krieg sahen wir einen langen Zug von Menschen herankommen, Männer, Frauen, Greise, Burschen und Mädchen, Kinder und Großmütter, verhärmt, abgerissen, todmüde.

„Verdammte Hunde!“ knurrte mein Kamerad. Es galt den SA-Leuten, die an zwei-, dreitausend Juden ins KZ schleppten, der „Endlösung“ entgegen. Da ist das nicht der Rudi, mein ehemaliger Schüler? Ich will vom Wagen hinunter.

„Bleib da! Kannst ja nix sagen!“ warnt mich mein Barraskamerad. Aber ich sprang hinunter und sagte zu dem SA-Mann mit Bitterkeit: „Das ist dein Geschäft?“

Er schlug die Augen nieder wie ein ertappter Schüler, er sprach kein Wort. Hatte er doch seinen ehemaligen Lehrer vor sich, mit dem er so oft an freien Nachmittagen hinauszog zu einem fröhlichen Geländespiel! Er1 war ein ängstlicher Bub mit blauen Augen gewesen. Hinterher trottete immer eine einzige Mutter, die Mutter des Rudi. Sie trug ihrem Söhnchen in der Thermosflasche Tee und ein Stück Kuchen nach. Meine Buben belächelten den Aufzug. Doch hier brauchte sich der Rudi nicht zu fürchten, er hatte den Schießprügel auf dem Rücken und eine Menge von SA-Kameraden um sich.

Ich dachte an seine fürsorgliche Mutter. Ob sie auf ihren Buben stolz war, wenn sie von seinen Heldentaten erfuhr? Daß er Kinder und ihre Mütter zur Schlachtbank führte? Mit Verachtung schaute ich dem verirrten und vertierten Buben nach, wobei mein Blick an seiner Feldflasche haften blieb, die ihm am Hintern baumelte.

„Gemma, gemma!“ drängte mein Freund, da die SA-Männer bereits aufmerksam geworden waren.

Ich hätte niedersinken und die Opfer um Vergebung bitten mögen, weil ich nicht helfen konnte. Wo es einer versuchte, verschwand er sofort. Das Netz der Überwachung war so eng, daß sich kein Mensch rühren konnte.

Ja, die Helden von Warschau haben losgeschlagen. Unter größten Gefahren haben sie sich einige Waffen verschafft. Was nützte es? Sie gingen unter. Damals stand die Rote Armee der Sowjetunion bereits in der Nähe. Sehnsuchtsvoll warteten die Bedrängten auf Entsatz, und alle Welt hing heimlich an den Lautsprechern. Eine schändliche Wahrheit: Die Russen warteten so lange, bis der Aufstand niedergeschlagen und alle rebellierenden Juden vernichtet waren! Der Antisemitismus zeigte auch bei den Bolschewiken seine furchtbaren Wirkungen. Er macht sich ebenso heute den in der Sowjetunion lebenden Juden feindselig bemerkbar.

Woraus abermals zu erkennen ist, daß der russische Bolschewismus kein „Sozialismus“ in des Wortes wahrer Bedeutung ist. Sozialismus ohne Freiheit ist wie Christentum ohne Nächstenhebe. Der Bolschewismus ist die brutale Gewaltherrschaft über die Menschen. Marx und rote Fahnen sind Usurpation und Verkleidung einer schändlichen barbarischen Macht.

Die Naziherrschaft war die perfekteste Vernichtungsmaschine, ihre Späher und Spitzel ringsum, der Allernächste konnte bereit sein, dich dem Henker auszuliefern, und Waffen hatten nur die anderen. Das ist für den Menschen in unserer menschlich-demokratischen Atmosphäre nicht vorstellbar.

Man denke sich aber nur ein paar Dutzend Kilometer nord- oder ostwärts ... Wer kann sich dort und womit wehren?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung