7013014-1988_16_08.jpg
Digital In Arbeit

Pariser Straßenmusikant

Werbung
Werbung
Werbung

Kaum daß man, verblüfft, was einem da aus der Unterwelt entgegenhallt, in die Metro-Station hinabgestiegen ist, einen kindlichen Augenblick lang überlegend, wie denn da unten ein ganzes Orchester Platz fände, wie zusammengedrängt,

macht einen der junge Mann, reizend anzusehen in seinem schwarzen Frack, mit schönen, vor einem Notenpult ausgeführten Bewegungen eine kindische

Enttäuschung und mit ihr auch die Frechheit vergessen, daß er bloß die Tonbandwiedergabe eines von einem großen Dirigenten dirigierten Orchesters dirigiert, an der C-Dur-Symphonie von Schubert keck ausgeführter poetischer Einfall,

nur wie sollte wirklich einer, der möglicherweise tatsächlich auf Dirigent studiert, aber kein einziges Instrument zulänglich beherrscht, seiner Benachteiligung gegenüber den Flöten- und Geigenkindern, welche zu freundlich sie einbeziehenden, weil sie aussparenden Schallplattenmusiken ihren Solopart spielen, anders als mit solchem Schattenboxen zu Leibe rücken, solange noch kein Orchester der Welt von ihm geführt für ihn spielen mag, nicht an solch einem Ort,

schlimm genug für ihn jungen Künstler, daß wohl nur ganz wenige Passanten erkennen, daß er uns nichts vorgaukelt, nicht bloß zum Schein rasch umblättert, die Musik nicht mit Phantasiebewegungen zu zwei Händen begleitet, als wollte er bloß die Seelenbewegungen derer, die sich von ihr ergreifen und tragen lassen, in

Schwing- und Schwimmbewegungen übersetzen, sondern, eins geworden mit den Intentionen seines Vorbildes, als dessen Schatten Konserviertes frisch belebt, in den Geist des Toten geschlüpft (und dadurch von denen unterschieden, die in einem Konzert dann mitzudirigieren beginnen, wenn ihnen das Tempo des Dirigenten nicht paßt), dessen Weg durch diese Musik dadurch richtig nach- oder mitgeht, daß auch er mit seinen Zeichengebungen der Musik ein und denselben Bruchteil Zeit voraus ist,

wie er ja auch (selbstkokett oder wirklich vergessend, daß er als Schattendirigent die in dieser Aufnahme offensichtlich oftmals gehörte Musik in ihrem Ablauf nicht beeinflussen kann) manchmal den Finger an den Mund tut, damit die Musiker sich auch diesmal an dieser und jener heiklen Stelle an die von seinem Meister richtig befundene Lautstärke halten, zum Leben erweckt ihr Musizieren durch das, was er Zauberlehrling als Vermächtnis des Meisters im Ohr hat—undenkbar, daß er mit diesen beschwichtigenden Zeichen naseweis vor allem uns zu verstehen gibt, es wäre an der Zeit, daß ihm unsentimentalem Heutigem von solch einem Orchester genau auf die Finger geschaut würde!

wäre das Tun des Bettelstudenten (sofern er nicht doch nur ein Einmann-Ballett tanzt und alles recht anders sich anhörte, wenn die plötzlich lebendigen Musiker schadenfroh seine Pantomime befolgten) nur dann als legitim nachzuweisen, wenn es sich auf andere Künste übertragen ließe, ansonsten ja doch ein wenig an den Parkplatzwärter gemahnend, der einen mit bedeutsamen Gesten an eine bestimmte Stelle dirigiert, obwohl der ganze Parkplatz leer ist?

ein Straßenmaler etwa, der eine schadhafte oder schattenhafte Reproduktion eines berühmten Bildes vervollkommnen würde, wäre nicht Maler, sondern Restaurator, während Musik der Partitur nachzuzeichnen und den Musikern vorzuzeichnen das Geschäft des Dirigenten ist;

nahe käme ihm vielleicht ein Maler, der, sofern er mitangesehen (und genau im Kopf behalten) hätte, wie etwa Picasso ein bestimmtes Bild gemalt hat, das vor ihm liegende Picasso-Bild njit einem blinden Pinsel an dessen Statt nochmals malte, vielleicht besser, damit sich sein Tun nicht als bestenfalls flotte Nachziehübung ausnähme, mit wirklichen Farben und dem richtigen “ Schwung auf ein dem Original aufgelegtes Glas;

frecher als der kleine Dirigent (der ja doch auch klar macht, daß die Leistimg des Dirigenten zu einem Gutteil die des Orchesters ist, ja wer oder was von beiden ohne den Widerpart halbwegs auskäme) wäre einer, der, von der Playback-Technik dazu ermuntert, zu einer berühmten Stimme (sofern sie nicht gegengeschlechtlich ausgewählt wäre) Mund, Lunge, Zwerchfell... Scheinarbeit verrichten ließe, wie eindrucksvoll auch seine Zunge flattern und sein Zäpfchen vibrieren wollte, noch frecher nur einer, der, des Englischen unkundig, für einen mimisch und gestisch untermalten Shakespeare-Monolog Lau-rence Oliviers Stimme liehe, es sei denn, er wäre ein Stotterer oder stumm.

vielleicht wird einer, der Orgel studiert, die Domorgel aber nicht gut mit sich herumschleppen kann, mit Händen und Füßen Luftorgel spielen auf die Gefahr hin, als ein Epileptiker oder Irrer abgeführt zu werden,

und warum sollte nicht ein Dichter, zu stolz, sich als sein Werkelmann zu rezitieren (gleichgültig, ob der letzte Wiener Werkelmann tatsächlich die Kurbel im Leerlauf zu einem hinter der Holzverschalung versteckten Tonband dreht), vor einem leeren Blatt Papier sitzen, wenn doch zu

dichten nur mittelbar mit Schreiben zu tun hat,

in der Haltung, in welcher er innig um Hilfe bittend der Inspiration entgegenwartet oder in welcher er sie ihm aufsteigen fühlt aus geheimen Quellen, geistesabwesend die Wange in die Hand geschmiegt oder in der selbstvergessen weggestreckten Hand den Bleistift wie ein gezückt eingeschlummertes Messer!?

(besser vielleicht, der junge Dichter nähme sich ein Beispiel an den Sonntagsmalern, welchen ja auch von Passanten über die Schulter geschaut wird und die Eindruck machen, wenn sie, ein Auge zugekniffen wie beim Schießen, mit vorgestrecktem Daumen Maß nehmen an der Natur; denen, welche besorgt mitansähen, daß er einmal in den Himmel, einmal auf sein Blatt starrt, auf welchem nicht viel mehr Wörter stünden als Monde am Himmel; daß er, viele Male den Bleistift ansetzend, ein endlich hingeschriebenes Wort wieder nur ver-kratzelt, denen ginge wohl auf, wie schwer diese brotlose Kunst ist,

und so wäre es weniger eine Frechheit, wenn er, sich für ein paar Münzen zu revanchieren, in schöner oder in gehetzter Schrift: „Der du von dem Himmel bist“ niederschriebe!)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung