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Repetieren sinnlos?

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Zur Begründung der Notwendigkeit einer Generalreform unseres Schul- wesens im Sinne der Gesamtschule wird heute auch die relativ hohe Repetentenquote und die angeblich wissenschaftlich fundierte Ansicht angeführt, daß das Repetieren im Grunde sinnlos sei, weil bei den betroffenen Schülern im Wiederholungsjahr gar kein Leistungszuwachs, sondern eher eine Leistungsminderung zu verzeichnen sei. Daß die Repetentenquote, vor allem auf der Unterstufe höherer Schulen, relativ hoch ist, ist gewiß nicht zu bestreiten, ebensowenig, daß mancher Schüler trotz Repetierens das Bildungsziel der höheren Schule nicht erreicht. Muß das aber wirklich ausschließlich oder überwiegend an einer prinzipiellen Unzulänglichkeit des Schultyps oder unseres Schulsystems liegen? Könnte es nicht im wesentlichen darin begründet sein, daß viele eben nicht ausreichend über die für die Erzielung einer höheren Schulbildung erforderlichen intellektuellen und willensmäßigen Voraussetzungen verfügen? Solange das Abschlußzeugnis einer Schule die Eignung für Berufe mit geistigen Anforderungen und im besonderen das der höheren Schule die Qualifikation für ein Hochschulstudium zum Ausdruck bringt, wird es wohl auch ein entsprechendes Maß an Bildungswillen und intellektueller Begabung sowie an Wissen und Können in wesentlichen Bildungsfächern voraussetzen müssen. Dann aber wird es sich kaum vermeiden lassen, daß Schüler, die sich im ganzen oder in wesentlichen Lehrgegenständen so leistungsschwach erweisen, daß eine erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen der nächsthöheren Stufe nicht erwartet werden kann, zum Wiederholen veranlaßt werden. Daß die Quote solcher Schüler nicht geringer werden kann, wenn ein immer höherer Prozentsatz unserer Kinder Schultypen mit anspruchsvolleren Bildungszielen besucht, ist doch nicht unverständlich. Oder glaubt man allen Ernstes, daß jedes normal schulwillige und schulfähige Kind zu einem akademischen Studium befähigt werden kann oder daß dieses auch ohne angemessenes Begabungsund Bildungsniveau ermöglicht werden soll?

Daß Repetenten in den Gegenständen ihres Versagens im Wiederholungsjahr gar keine besseren Leistungen, .pielmehr sehr oft in den anderen Fächern einen Leistungsabfall aufweisen, ist eine Behauptung, die ein in der praktischen Schularbeit stehender Lehrer schwerlich mit seinen Erfahrungen in Einklang bringen kann. Wer mit der Geschichte der Pädagogik und der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit ein wenig vertraut ist, wird eine solche zur unmittelbaren Erfahrung im Widerspruch stehende Auffassung auch dann nicht akzeptieren können, wenn diesbezüglich auf ein Ergebnis neuerer pädagogischer Forschung verwiesen wird. Natürlich gibt es Schüler, die wegen eines ungewöhnlichen Maßes an allgemeiner oder spezieller Minderbegabung, aus notorischer Faulheit oder anderen Gründen auch nach Wiederholung einer Schulstufe kaum bessere Leistungen aufweisen. Meist aber ist im Wiederholungsjahr doch ein klarer Leistungsfortschritt zu erkennen, nicht selten erweisen sich einmalige Repetenten später sogar als ganz gute Schüler.

Mit diesen Erfahrungshinweisen soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden, daß es Repetentenprobleme gibt und auf dem Gebiet der Quali- fikations- und Versetzungspraxis Reformen nützlich wären. Solche schienen mir beispielsweise in dem Sinne diskutabel, daß bei sonst guten Leistungen eine spezielle Leistungsschwache toleriert oder ein Teilrepetieren nur in diesem Fach ermöglicht werden könnte. Im übrigen sollte nicht übersehen werden, daß konkrete pädagogische Sinnwidrigkeiten auf diesem Gebiet oft gar nicht so sehr systembedingt, als auf menschliche Unzulänglichkeit zurückzuführen sind. Diese aber werden wir wohl oder übel in Kauf zu nehmen haben, solange die Schule nicht ausschließlich über pädagogisch hochqualifizierte Lehrer verfügt und auch nicht ein Schulsystem möglich erscheint, in dem Leistungsbeurteilung und Einordnung in Arbeitsgruppen nach der Leistungsfähigkeit (seien es nun Klassen, Züge oder Niveaugruppen) überhaupt entbehrlich sind. Falls ein solches realisiert würde, hätten wir aber sicher Mängel anderer Art an ihm zu beklagen.

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