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Stachel im Fleisch der Ungarn
Am 4. Mai wird Kardinal Mindszenty, der letzte Fahnenherr, in Esztergom feierlich bestattet
Am 4. Mai wird Kardinal Mindszenty, der letzte Fahnenherr, in Esztergom feierlich bestattet
Bestattet Ungarn mit Kardinal Jözsef Mindszenty auch das historische Gewissen zur allerletzten Ruhe? Anfang Mai kehrt der Tote heim. Niemand wagt es, ein neues Bild von ihm zu zeichnen.
Über hunderttausend Menschen werden am 4. Mai in Esztergom zur Beisetzung Kardinal Jözsef Mind-szentys erwartet. Verantwortlich für die Organisation ist das Sekretariat Kardinal Paskais, dem zu diesem Anlaß von Rom der zweite Platz zugewiesen wurde. Als Primas der
ungarischen Kirche nimmt er freilich an den Feierlichkeiten teil, die allerdings vom Kurienkardinal Opilio Rossi, dem früheren Nuntius in Wien, geführt werden. Mit diesem taktvollen Zug sollen die Gemüter jener Katholiken rund um die Welt beruhigt werden, die sich im Gegensatz zu Paskai und seinem Kreis noch daran erinnern, mit welchem Eifer dieser zur Zeit des Einparteisystems jede Gelegenheit wahrnahm, um sich - vor allem in westlichen Presseorganen - gegen seinen einstigen Vorgänger auszusprechen.Paskai glänzte natürlich auch in der einheimischen Öffentlichkeit mit einer fast schon widersinnigen Regimetreue: im Mai 1989 waren die Reformsozialisten schon längst dabei, den Weg der Rehabilitierung der Opfer des Kommunismus mit Gesetzen zu ebnen, als Paskai in einem Fernsehinterview erklärte, er halte die Rehabilitierung Mindszentys für nicht nötig, da in der Kirche „das Leiden natürlich sei". Seitdem hat er freilich seine Meinung geändert.
Es fragt sich freilich, was für ein Mindszenty-Bild heute noch unter Ungarns Katholiken lebt. Abgesehen von den zweifelhaften Versuchen einiger außerparlamentarischer Gruppen, aus dem beispielhaften Leiden des einstigen Kirchenfürsten politisches Kapital zu schlagen, droht keine Gefahr dafür, daß Mindszenty von den Parteien zur Kenntnis genommen wird. Jene, die ihn als unnachgiebigen Fürstprimas bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1948 erlebt
haben, gehören den älteren Jahrgängen an. Die Jüngeren hatten höchstens die Möglichkeit, auf privatem Wege das von der kommunistischen Propaganda stets mit unerhörter Aggressivität aufgezeichnete Feindbild des „reaktionären Hohepriesters" zu korrigieren.
In der Kirche konnte man es jedenfalls am wenigsten; selbst viele - nicht unbedingt oppositionelle, doch recht mutige - Priester verstummten öfter, wenn der Name Mindszenty fiel. Nachdem der Kardinal 1971 sein Exil im Gebäude der Budapester US-Botschaft nach fünfzehn Jahren auf höhere Anordnung hin verlassen hatte, unternahm Nachfolger und treuer Diener des Kirchenamtes, Primas Le-kai, den Versuch, die These zu verbreiten, daß das gespannte Verhältnis zwischen Staat und Kirche Mindszentys Anwesenheit zu verdanken gewesen wäre.
Es ist aber etwas merkwürdig, daß der offiziellen Kirche nicht einmal der heranrückende Anlaß die Anregung gibt, ein neues Mindszenty-Bild aufzuzeichnen. Angesichts des moralischen Nihils, auf das einige Mitglieder der Bischofs-konferenz als registrierte Denunzianten des Staatlichen Kirchenamtes gesunken sind, ist es freilich irgendwo auch schon verständlich. Es ist wirklich zu schade, daß die kommunistischen Zeiten vorbei sind, als man ihn, in Privatgesprächen freilich, als „einen unzeitgemäßen Politiker", „den letzten Fah -nenherrn" oder gar als „Spinner" bezeichnen und auch belächeln
konnte. Es ist wirklich wahr: aus dem Versuch, ein Mindszenty-Bild zu entwerfen, könnte nur all zu leicht eine Debatte entstehen, die recht viele Fragen historischen und moralischen Charakters aufwerfen würde. Und sie wären einigen Oberhirten Ungarns - und ihren Mitarbeitern - genauso unangenehm, wie der Leichnam des Kardinals.
Starrsinniger Konservativer?
„Der letzte Fahnenherr", „der Spinner", „der unzeitgemäße Politiker" war zum Beispiel die einzige offizielle Person im Lande, die seinerzeit die von den christlichen Kleinen Landwirten angeführte Koalitionsregierung aufforderte, gegen die Ermordung von über 40.000 ungarischen Zivilisten durch Titos Partisanen zu protestieren (vergebens); er erhob sein Wort gegen die brutale Deportierung der Schwaben und verurteilte die im Rahmen des sogenannten „Bevölkerungsaustausches" durchgeführte Vertreibung der ungarischen Minderheit aus der Slowakei. Die Wirkung blieb jedesmal aus. Die Zeit, als er den Praktiken der Kommunisten und der sie - aus welchem Grunde auch immer -unterstützenden „demokratischen Parteien" gegenüber unnachgiebig blieb, möchten heute die meisten Politiker am liebsten überspringen.
So wollen selbst die Parteien der christlich-nationalen Koalition den Schadenersatz für die nach Kriegsende konfiszierten Güter ab 1947 oder gar auch ab 1949 gelten lassen. Angesichts der Tatsache, daß die im Zuge der Kriegshandlungen in Ungarn einrückende Rote Armee die Verfolgten des NS-Regimes tatsächlich von der Lebensgefahr befreit hat, ist es im Falle der Betroffenen sicherlich durch und durch berechtigt, von Befreiung zu sprechen - selbst wenn dieser Begriff Jahrzehnte lang von den Kommunisten mißbraucht war. Das offizielle und berufspolitisierende Ungarn leitet jedoch daraus auch heute noch stillschweigend die - aus der bolschewistischen Ideologie stammende - These der „historischen Gerechtigkeit" ab. Demnach seien unter anderem die damaligen Enteignungen schon gerechtfertigt -einschließlich der entschädigungslosen Konfiszierung der kirchlichen Besitztümer.
Dies wurde übrigens von Mindszenty nie beanstandet; umso resoluter widersetzte er sich der von den Kleinen Landwirte vorgeschlagenen Verstaatlichung der kirchlichen Schulen. Es geschah freilich auf kommunistischen Druck, der sich auf die Gleichschaltung des politischen Lebens richtete.
Es ist zweifelsohne einfacher, Mindszenty im Klischee des starrsinnigen Konservativen oder gar Monarchisten zu belassen und freilich sofort hinzuzufügen, er habe später unschuldig gelitten.Im Grunde hat weder die Kirchenführung noch das offizielle Ungarn Interesse an der Entstehung eines Mind-szenty-Bildes.
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