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Was unterscheidet ein Gedicht von einem Text?

Textum heißt lateinisch Gewebe oder Geflecht. Die Textilindustrie stellt aus Fasern Stoffe her, flicht sie zusammen, webt, wirkt, näht und bestickt sie. Das Garn wird gesponnen, damit ein rechter Faden entsteht. Ähnlich verfahren auch die Verfasser von Worttexten. Präzis knüpfen sie die Gedanken aneinander. Ihr Text überzeugt durch logische Folgerichtigkeit, und der Einschuß von sarkastischen Schlaglichtern verhindert die Verwendung als sanftes Ruhekissen. Der Text darf boshaft sein, er will nicht einlullen, sondern aufrütteln. Wir leben nicht in der besten aller möglichen Welten, sondern in einer durch verblendete Menschen aus den Fugen geratenden. Der Text will Haarsträubendes aufdecken. Er schreit hinaus, was schlecht ist, damit es besser werde.

Wenn das Gefühl beim Verfertigen eines Textes mitspricht, kann unversehens ein Gedicht daraus werden. So gibt es Liebesgedichte, aber keine Liebestexte; Abschiedsgedichte, Trauergedichte, Elegien, Hymnen, Idyllen, Balladen, Landschaftsgedichte, Heikus, geistliche Gedichte, Heldenlieder, und bei allen diesen sind Empfindung und Phantasie mehr beteiligt als bei einem nüchtern erwägenden Text. Dagegen läßt sich die Satire mit Spott und Hohn mit dürren Worten aus dem Alltag ableiten, und die Spiel- und Scherzgedichte legen es auf Doppeldeutigkeit an oder sezieren den eigentlichen Wortsinn heraus, um die Begriffe zu reinigen. Ein Gedicht, das nicht klingt, ist keines, aber es muß seine Musik nicht aus den Reimen herbemühen. Freie Rhythmen können sie auch in sich haben, und sie haben den Vorzug, daß kein Wort wegen der Kunstfertigkeit eingerückt wird, jedes steht für sich und sagt nur das, was es bedeutet. soH-rsa nov “3i/p

Ein Text stellt einen Sachverhalt fest und setzt genaue Beobachtung und Tatsachenkenntnis voraus. Wenn wir eine Oper verstehen wollen, nehmen wir das Textbuch zur Hand. Aber ohne die Partitur bliebe es stumm, die Musik muß hinzukommen. Beim Gedicht ist es nicht so, es braucht keine begleitende Melodie, es klingt aus sich. Manche Lieder werden freilich erst unvergeßlich durch einen dem Dichter kongenialen Komponisten. Doch kein Schubert oder Schumann wird sich heute mehr finden, uni einen kahlen Text sangbar zu machen.

In Strafpredigten wurde früher den Gemeinden der Text gelesen, und auch heute will mancher Text nur der Wahrheit und Klarheit dienen. Er verzichtet auf Schnörkel und schmückendes Beiwerk und steuert die Sache an. Die Notwendigkeit, hergebrachten Ballast abzuschütteln, leuchtet ein. Im Idealfall kann ein Text dadurch zum Gedicht werden, daß sein Verfasser mit Haut und Haar beteiligt ist und der Sinn seiner Aussage von seinem Gefühl getragen wird. Dann packt es uns, und wie wir das Entstandene nennen, ist nicht wichtig. Die Lyrik, die in der Mitte der sechziger Jahre von Voreiligen totgesagt wurde, ist inzwischen aus ihrem Dornröschenschlaf wieder aufgewacht und geht, wenn nicht alles täuscht, einer neuen Blütezeit entgegen. Durch die Zu-rückbesinnung auf die unverblümten Tatbestände hat sie die Epoche der hohlen Schönrednerei und des müßigen Wortgeklingels hinter sich gebracht.

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