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Digital In Arbeit

Wann darf ich meine Zeitung lesen?

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In derGroßstadt kann man sich schon heute darüber informieren, „was morgen geschah". Da bekommt man nämlich bereits die Morgenzeitungen vom nächsten Tag. Wer möchte seiner Zeit nicht voraus sein?

So kaufe ich mir also zwischen sechs und sieben Uhr, für mich frühnach-mittags, für Morgenmenschen spätabends, für die Wiener tiefste Nacht, mein Morgenblatt. Automatisch schlage ich es auf, um hineinzuschauen, doch meine Gattin, die mich vorantreibt, weil wir bei Freunden zum Abendessen eingeladen sind, meint, man liest nicht auf der Straße Zeitung. In der Straßenbahn versuche ich abermals, die Zeitung wenigstens durchzufliegen, doch meine Gattin, die mich vorantreibt, weil wir uns verspäten, meint, ich solle mich mit ihr unterhalten Schön, ich halte mich unter. Wieder daheim, möchte ich endlich den Kontakt mit der Zeitung aufnehmen, doch meine Gattin, die mich vorantreibt, weil sie meine Gattin ist, meint, ich müsse Schlafengehen, zum Zeitunglesen hätte ich ja den ganzen nächsten Tag noch reichlich Gelegenheit.

Frühstück. Zeitung vor. Krach. Die Frau, deretwegen ich asymmetrisch bin - man nennt sie immer meine bessere Hälfte, demnach muß ich auch eine schlechtere Hälfte haben, und die überwiegt, wie ich von ihr oft zuhören bekomme -, meint, der bei Tisch Zeitung lesende Gatte sei das

Symbol der schlechten Ehe.

Ja, wann darf ich denn meine Zeitung lesen?

In der Straßenbahn, auf dem Weg ins Büro? Wenn ich im Gedränge blättern will, muß die dicht an mich gepreßte junge Dame glauben, ih würde mich ihr unsittlich nahem.

Im Büro? Probieren Sie es einmal, wie Sie dastehen, wenn Sie da sitzen mit der Zeitung in der Hand und der Chef tritt ein und sieht, daß Sie nichts zu tun haben...

Beim Mittagessen, in meinem Stammbeisl macht mich mein Stammkellner darauf aufmerksam, man sollte wenigstens beim Essen nicht lesen, weil dadurch Magengeschwüre entstehen könnten...

Im Kaffeehaus? Da habe ich geschäftliche Besprechungen. Übrigens habe ich meine Zeitung im Büro vergessen, und die hier aufliegenden Exemplare sind gerade nie frei.

In der Trafik ergattere ich noch ein Ersatzjournal, im Autobus noch einen Sitzplatz. Ich widme mich endlich meiner Lektüre... bis ich das Gespräch zweier älterer stehenden Damen höre, die Herren der Schöpfung verschanzten sich hinter dem Zeitung-lesen-Trick, um ihren Platz nicht übergeben zu müssen. Ich gebe über und auf

Zu Hause nütze ich die Gelegenheit, während meine Gattin das Mahl zur Nacht bereitet, das Versäumte nachzuholen. Da schaut meine BH -Sie wissen schon: bessere Hälfte- zur Tür herein und sagt: „Du wirst doch nicht die Zeitung von gestern lesen? Wirf sie weg!"

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