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Weg in die Tiefe

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Seine Erscheinung ist so bescheiden wie entschlossen, sein Gesicht wirkt unbestechlich und redlich. Seine Sprache ist knapp und genau, von hoher poetischer Schönheit. Man könnte ihn einen poetischen Politikernennen, denn der Zeitgeist - oder Zeitungeist - weht durch seine Gedichte. Sein Vortrag ist brillant - das sagt man ungern, weil es ein oft mißbrauchtes Wort ist, aber es stimmt: was er sagt und wie. Am ersten Abend seines Poetik-Seminars im überfüllten Hörsaal der Universität Salzburg sprach Reiner Kunze über eine Anekdote Heinrich von Kleists aus dem letzten preußischen Krieg. Kunze bekennt sich zu Kleists Ausspruch „In der Kunst kommt es überall auf die Gestalt an, und was eine Gestalt hat, ist meine Sache“.

Die Anekdote ist ein Meisterstück Kleistscher Kurzprosa: Ein preußischer Haudegen sprengt vor das Wirtshaus eines von den Franzosen umzingelten Dorfes, läßt sich vom Wirt Branntwein bringen, trinkt, zündet sich eine Pfeife an, haut schließlich drei ansprengende Franzosen aus dem Sattel, galoppiert mit ihren Pferden davon. Kunze verweist auf die Vieldeutigkeit des Textes, der auf die tagespolitische Situation hin geschrieben ist und sich dazu eignet, für patriotische

Zwecke verwendet zu werden.

An einer Reihe von Beispielen zeigt er auf, wie vielfältig dieser Text interpretiert werden kann. Kunzes Deutung ist fern von jeder Ideologie: Es geht ums Überleben der Kreatur - nichts weiter. Aus der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten steigt die Frage der Verselbständigung eines Kunstwerkes gegen den Willen seines Autors, der keinen

Einfluß mehr hat auf die „rumorenden Energien“ in seinem Text. Kunze kommt zu dem Schluß, daß alles Existentielle ideologisch deutbar und somit mißbrauchbar ist.

Am zweiten Abend des Poetik- Seminars las Kunze eigene Texte über die Konsequenz des Schriftsteller-Seins im geteilten Deutschland: Zitat: „Ein Autor hat nicht die Wahl, welche poetischen Bilder ihm einfallen. Aber er muß den Kopf dafür hinhalten.“

Reiner Kunze hat ihn hingehalten und hält ihn hin. Denn damals wie heute gilt für ihn die Unmöglichkeit, mit der Lüge leben zu können. Er las aus seinen Gedichtbänden „Zimmerlautstärke“, „Sensible Wege“ und „Eines jeden Menschen einziges Leben“. Die verbindenden Texte berichteten über das Leben in der DDR, über den zermürbenden Alltag, über durchwachte Nächte, von der Taktik der Machthaber, Postsendungen zu verzögern oder zu verhindern, Autoren (mund)tot zu machen dadurch, daß sie keine Möglichkeiten zur V eröffentlichung ihrer Arbeiten erhalten. Aus dem Gehörten ging die Unmöglichkeit für den Autor hervor, Kompromisse zu schließen: „Das poetische Bild ist nicht kompromißfähig, weil es auf Wahrheit verweist“ und „Für einen Schriftsteller ist die Wirklichkeit auch immer die Wirklichkeit der anderen“.

Nicht länger imstande, Druck und Drohung zu ertragen, beschlossen er und seine Frau, „die Heimat zu verlassen und doch in der Heimat zu bleiben, in der eigenen Sprache“.

Am 14. April 1977 verließen sie die DDR.

Reiner Kunze kam kurz darauf nach Salzburg, um den Trakl-Preis entgegenzunehmen. Es ist die Stadt, in der er, wie er sagt, „zum ersten Mal seit seiner Flucht das Gefühl von Freiheit empfand“. Das Poetik- Seminar mit dem Dichter fand großen Widerhall: Veranstaltungen dieser Art werden von nun an im Rahmen des Literaturforums „Leselampe“ regelmäßig stattfinden.

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