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Priester der Zukunft

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Wer die soziologischen Strukturen Frankreichs ständig beobachtet und die Mutierungen begreift, weiß, daß die Unruhen und Streiks, die zunehmende Malaise und die politischen Auseinandersetzungen aus tieferliegenden Quellen gespeist werden, als es der Kampf um die Vorzüge und Mißerfolge eines Regimes “ermuten lassen. Seit der französischen Revolution erleidet dieses Volk die bisher schwerwiegendsten Umgestaltungen. Mag der junge katholische Bauernführer De-batisse von der „stillen Revolution“ sprechen, weiß doch jeder Bürger des Landes, daß sämtliche traditionellen Vorstellungen in Frage gestellt sind. Alljährlich verlassen 100.000 Bauern ihr Land, um in einer rationalisierten und zentralisierten Stadtgesellschaft zu leben. Auf engsten Baum zusammengedrängt, bildet sich ein besonderer Lebensrhythmus heraus, der eigene Gesetze entwickelt. Die Bourgeoisie, tragende Säule der III. und IV. Republik, kämpft um eine Neudefinierung ihrer Funktion in Staat und Nation. Weitblickende Gewerkschaftsführer wissen zu genau, daß die Arbeitnehmerorganisationen ihren Mitgliedern mehr zu bieten haben, als die Entfesselung von Lohnkämpfen und die Organisierung von gelungenen Streiks.

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Wer die soziologischen Strukturen Frankreichs ständig beobachtet und die Mutierungen begreift, weiß, daß die Unruhen und Streiks, die zunehmende Malaise und die politischen Auseinandersetzungen aus tieferliegenden Quellen gespeist werden, als es der Kampf um die Vorzüge und Mißerfolge eines Regimes “ermuten lassen. Seit der französischen Revolution erleidet dieses Volk die bisher schwerwiegendsten Umgestaltungen. Mag der junge katholische Bauernführer De-batisse von der „stillen Revolution“ sprechen, weiß doch jeder Bürger des Landes, daß sämtliche traditionellen Vorstellungen in Frage gestellt sind. Alljährlich verlassen 100.000 Bauern ihr Land, um in einer rationalisierten und zentralisierten Stadtgesellschaft zu leben. Auf engsten Baum zusammengedrängt, bildet sich ein besonderer Lebensrhythmus heraus, der eigene Gesetze entwickelt. Die Bourgeoisie, tragende Säule der III. und IV. Republik, kämpft um eine Neudefinierung ihrer Funktion in Staat und Nation. Weitblickende Gewerkschaftsführer wissen zu genau, daß die Arbeitnehmerorganisationen ihren Mitgliedern mehr zu bieten haben, als die Entfesselung von Lohnkämpfen und die Organisierung von gelungenen Streiks.

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Es wäre verwunderlich, wenn nicht auch ein Berufsstand von dieser Unruhe ergriffen würde, der in der französischen Geschichte oft bedeutende Aufgaben übernommen hatte. Die 40.994 Priester beginnen ebenfalls zu sprechen, suchen den Dialog, verlangen eine Umgrenzung ihres Wirkens in der industriellen Zivilisation des ausgehenden Jahrhunderts. Während der Weltkatholizismus fasziniert auf die Ereignisse in Holland, die Spannungen im südamerikanischen Raum und die Resultate des letzten deutschen Katholikentages blickte, erfaßte den französischen Klerus eine Bewegung, welche ebenfalls in die Gesamtentwicklung der Kirche einzuordnen wäre. Frankreich ist nach wie vor ein katholisches Land: 80 Prozent der Zeitgenossen sind getauft, haben zumindest einmal in ihrem Leben kommuniziert und wünschen eine kirchliche Trauung. Selbst der Ungläubige betrachtet den Cure oder Abbe seiner Pfarrei als Respektperson, verlangt vom Kleriker ein untadeliges Leben und ahnt, daß er der Vertreter Gottes unter den Menschen ist. Mögen nur noch 5 bis 20 Prozent der Katholiken regelmäßig am Sonntagsgottesdienst teilnehmen, so bleibt eine gewisse Bindung an die Kirche doch irgendwie bestehen.

In diesem Zusammenhang mögen die Resultate des maßgeblichen Meinungsforschungsinstitutes Sofres unterstrichen werden. 2000 Personen wurden 1968 in ganz Frankreich über die Einstellung zum Priesterberuf befragt: „Welche Qualitäten erwarten sie von einem Priester?“ 43 Prozent der Antworten lauteten: „Er soll menschlich sein.“ 21 Prozent wiederum forderten, daß der Priester soziale Probleme verstehe. Mehr als 54 Prozent waren der Meinung, daß dem Priester die Heirat gestattet werden solle. In diesen Äußerungen spiegeln sich jene Konflikte wider, die den französischen Priester unserer Tage beschäftigen. Wie soll er seinen persönlichen Lebensstil gestalten? Mit welchen Aufgaben darf er sich tagsüber befassen? Welchen allgemeinen Pflichten muß er nachgehen? Soll er weiterhin in einer Sakristei warten, bis einmal ein Mütterchen zur Beichte kommt? Wäre es nicht vorzuziehen, die Gläubigen und Ungläubigen in den Büros und Werkshallen aufzusuchen und an den Arbeitsplätzen mit einem Dialog zu beginnen? Auch die Priester Frankreichs wissen, daß eine neue Welt geboren wird. 10 Millionen Franzosen zählen ungefähr 20 Jahre. Diese Jugend ist im modernen Lebensrhythmus eingefangen. Sie entfremdet sich der religiösen Praxis. Unter den Fünfzehn- bis Vierundzwanzigj ährigen geht diese bereits um 30 Prozent zurück.

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