70 Jahre danach in Danzig

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Es war ein netter Herr, offensichtlich suchte er einen Gesprächspartner fürs Mittagessen. Auch wenn ich mich in dieses österreichische Ferienhotel eigentlich zurückgezogen hatte, um etwas in Ruhe fertigzuschreiben, wäre es unhöflich gewesen, ihn abzuweisen. Herr P. wollte wissen, was während der deutschen Besatzung von 1939–45 in Polen passierte. Seine Generation, so sagte er, hatte dies in der Schule nie gelernt. Vom Holocaust wusste er – aber sonst nur sehr wenig. Ich verstummte. Was sollte ich erzählen? Was wäre repräsentativ oder anschaulich? Ich entschied mich, nur vom Anfang des Kriegs zu berichten.

Ich erzählte ihm von Wielu´n, das bereits in der ersten Nacht komplett vom Bombenhagel zerstört wurde, obwohl es überhaupt keine militärische Bedeutung hatte. Oder von diesen sonnigen Septembertagen 1939 in der Provinz Großpolen, wo die Wehrmacht sofort nach dem Einmarsch in vielen Orten die örtliche Elite erschoss. Priester, Ärzte, Lehrer und Apotheker waren häufig die ersten Opfer. Ich erzählte auch von der Diözese W/loc/lawek, wo Deutsche nach 1939 achtzig Prozent der katholischen Priester umbrachten. Sollte an die Sonderaktion Krakau erinnert werden? Dort luden die Nazis zuerst die Professoren und Assistenten zur Eröffnung der Universität ein und brachten sie dann ins KZ Sachsenhausen, wo fast alle ermorden wurden. In Lemberg erschoss man Professoren auf der Stelle.

In Polen wurde schnell klar, dass es sich bei den Vorfällen weder um Rache noch Zufälle handelte, sondern um eine Methode. Gemäß dem Generalplan Ost sollten nämlich alle polnischen Akademiker und Intellektuellen systematisch ausgerottet werden. Die restlichen Menschen sollten – soweit sie nicht jüdisch waren – Zwangsarbeit leisten.

Wie ich merkte, war dies für meinen Gesprächspartner bald zu viel. Für eine Weile saßen wir still beisammen. Ich war ihm für die Frage und sein Interesse dankbar. Ich bin doch in Gliwice geboren, der Stadt der „Gleiwitzer Provokation“, wo die Gestapo mit Hilfe der Leichen polnischer Gefangener ein Attentat auf den Gleiwitzer Sender simulierte. Heute weiß man bereits alles über diese Aktion, die Hitler zur Kriegspropaganda diente – man schoss ja angeblich „zurück“ … Zusammen mit Gda´nsk wurde Gliwice zum Symbol für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Vor Kurzem standen in Gda´nsk Angela Merkel und Wladimir Putin mit 18 anderen Ministerpräsidenten zusammen und sprachen über Krieg, Schuld und Verantwortung. Jeder Satz der Reden wurde kommentiert und analysiert. Hauptsache ist jedoch, dass Repräsentanten Europas in diesen frühen Morgenstunden zusammengekommen sind, um auf ihre gemeinsame Geschichte zu blicken. Möge diese Geschichte nie wiederkommen!

* Die Autorin war 2000–2004 polnische Botschafterin in Österreich

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