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Der Bub soll arbeiten…

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„Unser Bub hat sich in den Kopf gesetzt, bei der Firma J. in S. als Kaufmannslehrling einzutreten. Wie einem kranken Roß haben wir ihm zugeredet, lieber Bauer zu werden und einmal den Hof zu übernehmen. Aber alles Reden hat nichts genützt.“ So äußerte sich eine Kärntner Mutter, deren Sohn zu den Schülern gehörte, die im Schuljahr 1966 67 den ersten Polytechnischen Lehrgang besuchten. Für sie bedeutet der in der Öffentlichkeit heiß umstrittene und häufig mit sehr negativen Prädikaten bedachte neue Schultyp etwas sehr Positives: „Durch die vielen Betriebsbesichtigungen in diesem Schuljahr hat der Bub vergleichen gelernt. Vor einiger Zeit ist er heimgekommen und hat uns laut verkündet, daß er doch Bauer werden möcht’. Verdanken tun wir das eigentlich dem Polytechnischen Jahr.“

Nicht alle Eltern werten die Ein führung des Lehrganges ebenso günstig: „Unser Bua paßt nicht mehr in die Schulbank, der ist ja um einen halben Kopf größer als mein Mann. Arbeiten soll der Bua, das wär’ für ihn das Beste.“

Auch heute, da bereits der zweite Schülerj ahrgang vor der Entlassung aus dem Polytechnischen Lehrgang steht, gehen die Ansichten über Wert und Unwert dieser in den Schulgesetzen des Jahres 1962 verankerten Erweiterung der Schulpflicht stark auseinander. Um stichhaltige Argumente für die Diskussion zu finden, hat sich daher die pädagogische Forschung, die das Problem ja direkt angeht, eingeschaltet.

So untersuchte ein junger Kärntner Lehrer, Franz Burgstaller, die konkreten Erfahrungen, die in einem eng begrenzten Gebiet im ersten Jahr des Polytechnischen Lehrganges gemacht wurden. Der Untersuchung, die als Doktorarbeit bei Prof. Doktor Karl Wolf am Institut für Pädagogik an der Universität Salzburg eingereicht wurde, liegen die Verhältnisse im Bezirk Spittal a. d. Drau in Kärnten zugrunde. Aus Stellungnahmen und Urteilen von Schülern, Eltern und Lehrern zum neuen Schultyp wird die Situation des Polytechnischen Lehrgangs in diesem Raum und darüber hinaus symptomatisch für viele andere Teile Österreichs deutlich.

Die Haltung der Eltern brachte Überraschungen. Während beim ersten Kontakt mit dem Lehrer noch vorwiegend negative Äußerungen fielen, zeigte sich später ein deutlicher Umschwung. Einer der Hauptgründe dafür war die Tatsache, daß bei mehr als einem Drittel aller Schüler mittlerweile eine Veränderung des Berufswunsches stattgefunden hatte. Diese Einstellungswandlungen waren sicher zu einem Gutteil Wirkungen der Lehrveranstaltungen der neuen Schultype, vor allem der Arbeit im Unterrichtsgegenstand „Berufskunde und prak tische Berufsorientierung“, der die Schüler zu sachgerechteren Urteilen über die einzelnen Berufsmöglichkeiten führte. Die Eltern, die sich ja gerade um das künftige Berufsleben ihrer Kinder sorgen, honorierten den günstigen Einfluß der Schule in ihren Stellungnahmen.

Und was sagen die Schüler zum Polytechnischen Lehrgang? Burgstaller suchte durch eine Meinungsumfrage in allen elf Lehrgangsklassen des Erhebungsbereiches Aufschluß darüber zu erhalten. Durchweg erkannten die Schüler den Polytechnischen Lehrgang als für sie wichtig. Unter den Gegenständen machten jene das Rennen, die auf das spätere berufliche und häusliche Leben hin orientiert sind. Einerseits wird der Knabenhandarbeit bevorzugte Bedeutung beigemessen: Wir wenden das einmal brauchen!“ Die künftige Berufslehre heißt für die Schüler zumeist, handwerklichen

Aufgaben gewachsen zu sein. Anderseits bezeichneten die meisten der befragten Mädchen „Hauswirtschaft“ und Kinderpflege“ als den wichtigsten Unterrichtsgegenstand.

Bursch und Mädchen nennen auch das Fach „Lebenskunde“ als Favorit. Sie sind in einem Alter, in dem sie selbständig anfangen, ihr Leben zu planen und zu bauen und daher möglichst viel über dieses Leben erfahren möchten. Burgstaller stellte fest, daß auch die Eltern diesen Lehrgegenstand sehr begrüßen: viele hier behandelte Themen, wie das Verhältnis der Geschlechter, Liebe und Ehe, kommen aus verschiedensten Gründen bei der Erziehung in der Familie überhaupt nicht oder nur ungenügend zur Sprache.

Ein erster Erfahrungsschatz konnte auch von den Lehrern des Polytechnischen Jahres 1966 gesammelt werden. Sie hatten sich übrigens größtenteils freiwillig zum Unterricht in dem neuen Schultyp gemeldet. Die insgesamt 69 Lehrpersonen, die in den ersten Polytechnischen Jahrgängen des Bezirkes Spittal unterrichteten, beantworteten einen Fragebogen mit sehr umfassenden Erfahrungsberichten. Allgemein stellt man fest, daß die Lehrgangsklassen viel stärker als die sonstigen Pflichtschulklassen in sich differenziert sind. Dies zeigt sich schon im äußeren Reifebild der Schüler: neben hochgeschossenen vollentwickelten Jugendlichen, deren Körperlänge die durchschnittlichen Rekrutenmaße überschreiten, sitzen richtige Kinder.

Eine soziometrische Untersuchung, die Burgstaller für seine Arbeit durchführte, zeigte, wie tief in den einzelnen Klassen die Kluft zwischen den verschiedenen Schülern war. Die soziale Distanz von den Hauptschülern zu den geringer eingeschätzten Volksschülern, die von Anfang des Schuljahres an bestand, verschärfte sich nach Burgstaller« Ergebnissen meist noch zu dessen Ende. Hier müßte die Erziehung zur Gemeinschaft stärker einsetzen.

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