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Wer bestimmt den Lehrplan

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„Sie müssen zunächst die Tatsache zur Kenntnis nehmen“, beginnt er, „daß es dem Erziehungsministerium kaum möglich ist, die Lehrpläne zu beeinflussen. Der Direktor einer Mittelschule ist in dieser Hinsicht ein Autokrat. Er entscheidet, welche Fächer unterrichtet werden. Auch die Lehrziele kann das Erziehungsministerium nicht bestimmen. Aber so völlig unabhängig ist der Leiter einer Mittelschule wieder nicht. Da die Maturafragen von verschiedenen Universi-'täts/erbänden gestellt und unter ihrer Aufsicht korrigiert werden, zwingen sie allen Mittelschullehrern einen bestimmten Standard auf.“

Die Frage nach den Kosten der Erziehung beantwortet Mr. Cunningham wie folgt: Im Vereinigten Königreich wurden in den letzten Jahren durchschnittlich ungefähr fünf Prozent des Volkseinkommens (dieses betrug 1961 1688,1 Milliarden österreichische Schilling, rund 30.150 Schilling pro Kopf der Bevölkerung) vom Staat und von Privatpersonen für Erziehungsaufgaben ausgegeben. Einem besonderen Ausschuß des Ministeriums in London unterstehen finanziell eine Reihe von Gymnasien. Einige von ihnen erreichen eine Sonderstellung als Brutstätte „heller Köpfe“, wie die Grammar School von Manchester, die ja auch als Public School anerkannt ist. Die große Mehrzahl der übrigen Mittelschulen beaufsichtigen Erzie-hungskomitees der lokalen Behörden, welche die dazu nötigen Mittel von London erhalten. Aber seit 1944 (dem Jahr, in dem ein Reformgesetz des jetzt, stellvertretenden Premierministers Butler das Parlament passierte) bezahlt der Staat auch die laufenden Kosten jeder einmal errichteten Schule, gleichgültig ob Primärschule, Hauptschule (Secondary Modern School) oder Gymnasium, und unabhängig davon, wer der Schuleigentümer ist. Praktisch sind das Gemeinden und die verschiedenen Religionsgemeinschaften. Nahezu alle katholischen Schulen sowie eine Reihe von der Methodistenkirche errichteter Anstalten unterstehen dieser Regelung. An diesem Prinzip hat die Labourregierung nach dem zweiten Weltkrieg übrigens nichts geändert. Neben diesen Schulen bestehen noch in wachsender Zahl solche, die nicht nach dem Gesetz von 1944 vom Staat unterstützt werden: die „Public Schools“. Diese beruhen völlig auf privater Basis; ihr Name ist daher irreführend.

Was nun die wirklichen Kriterien einer „Public School“ sind, läßt sich nur schwer herausarBeiten. Fragt man englische Schulmänner, antworten die einen. ..es seiennPrivatschulen, wo die Eltern das Schulgeld entrichten müssen“, die anderen meinen wieder, „jene Schulen, die auf der Konferenz der Direktoren der .Public Schools' in Brighton vertreten sind“. Nimmt man das erste Kriterium als Richtschnur, zählt die berühmte Grammar School von Manchester nicht dazu, von deren Absolventen der höchste Prozentsatz auf die Universitäten von Oxford und Cambridge zieht; nach-dem zweiten Kriterium ist diese Schul* als „Public School“ anzusprechen, weil ihr Direktor“ (highmäster) auf der erwähnten Konferenz in Erscheinung tritt.

Die „Großen Fünf“ der Public Schools

Die Public Schools stehen seit einiger Zeit im Mittelpunkt einer erbitterten öffentlichen Diskussion. Als Vorteile zählen die Befürworter eine allgemeinere Erziehung, bessere Lehrkräfte, Einordnung in eine Gemeinschaft, Vorbereitung auf Führungsaufgaben und große Selbständigkeit auf; ihre Gegner kritisieren die Entfremdung von der Familie, sozialen Snobismus und manchmal Fehlentwicklungen im Verhältnis zürn anderen Geschlecht. John Vaizey, der Direktor des Erziehungsinstituts der Universität London, bringt dies auf den folgenden Nenner: Die Absolventen einer „Public School“ sind unfähig, mit 99 Prozent ihrer Mitbürger zu verkehren, weil sie einfach deren Sprache nicht verstehen. (Zu dieser Feststellung bemerkt Mr. Cunningham bloß,

daß John Vaizey nicht aus einer Public School hervorging, daher kaum in der Lage sei, deren Vorteile zu würdigen.)

Das Gespräch mit einem ehemaligen Schüler von Kingswood, einer von John Wesley gegründeten und mit der Methodistenkirche eng verknüpften Anstalt, mag vielleicht am besten die Meinung der Engländer über die Public Schools wiedergeben. „Können Sie mir nicht die Namen der sogenannten .Großen Fünf der Public Schools nennen?“ Er denkt einen Augenblick nach und sagt dann. „Warten Sie, da ist einmal Eton, Harrow, Winchester, die .rowing-school' Shrewsbury (Ruderschule) und entweder Rugby oder Marlborough. Aber ich glaube, Marlborough ist berühmter, diese Schule hat schon seit einigen hundert Jahren in der Schulmeisterschaft kein Hockeymatch verloren ...“

Als vor mehr als hundert Jahren in England die Religionsfreiheit eingeführt wurde, ließen sich in verschiedenen Teilen des Landes katholische Internatsschulen nieder, die mehr als £50 Jahje, im Exil , auf. dein europäischen Kontinent verbracht hatten, hauptsächlich in Frankreich und Belgien. Eine der berühmtesten ist die von Jesuiten geleitete Anstalt Stoneyhurst. Wie alle Public Schools, liegt sie inmitten einer Parklandschaft, abseits von Verkehrslärm und Industrie. Man muß einige Unbequemlichkeiten auf sich nehmen, um nach Stoneyhurst zu kommen. Von der „nächsten Autobushaltestelle“ hat man noch rund acht Kilometer über die Hügel des nördlichen Lancashire zu wandern.

Father Winterborn, Studentenkaplan' an der Universität Manchester und ehemaliger Schüler von Stoneyhurst, führt den Gast durch das Schulgebäude, ein Schloß aus dem späten 16. Jahrhundert, welches in den letzten hundert Jahren durch Anbauten vergrößert worden ist. In der Eintrittshalle hängen an den Wänden indische, afrikanische und südamerikanische Waffen und Kunsthandwerk; alles Geschenke ehemaliger Schüler. Ein Großteil der Absolventen, so wird erklärt, ist später Künstler oder Berufsoffizier geworden. Stolz zeigt Father Winterborn die lebensgroßen Gemälde sieben ehemaliger Schüler, die in den letzten Kriegen das Viktoriakreuz vom König verliehen bekamen; dies wird als Auszeichnung für die Schule empfunden. In der Bibliothek hütet man als Schätze altenglische und mittelalterliche Handschriften und vor allem Briefe und Originaldrucke der Schriften der Märtyrer aus der Zeit der Königin Elizabeth I.

Unter dem Dach liegen die Schlafsäle der jüngeren Schüler (13 bis 16 Jahre), im Erdgeschoß kleine Zimmer für die älteren. Die Räume sind spartanisch einfach eingerichtet; dennoch beträgt das Schulgeld derzeit 29.000 österreichische Schilling im Jahr. Im Hause wohnen rund 400 Schüler und 40 Lehrer. In jedem Jahrgang studieren fünf bis zehn Prozent, ohne daß die Eltern dafür bezahlen mußten, mehr aber deshalb nicht, weil ein Großteil der Eltern ihre Kinder nicht in eine Public School schickte, wenn der Anteil von Stipendienschülern zu groß wäre.

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