Ritter zum Mitnehmen
Ein interessantes Stück Kulturgeschichte: die mittelalterlichen Grabplatten Englands und das "brass rubbing"
Ein interessantes Stück Kulturgeschichte: die mittelalterlichen Grabplatten Englands und das "brass rubbing"
In englischen Landkirchen sieht man nicht selten einen Herrn oder eine Dame in Tweed damit beschäftigt, über einen auf dem Boden ausgespannten Papierbogen gebeugt mit einem präparierten Wachsstift behutsam eine Figur durchzupausen. Das ist das "brass rubbing", ein Verfahren, für das es kein adäquates deutsches Wort gibt, weil der Begriff selbst und seine Voraussetzungen außerhalb der britischen Inseln so gut wie unbekannt sind.
Gemeint ist die Methode, genaue Abbilder jener historischen Grabplatten herzustellen, die aus Messing "brass" gefertigt und in der Fläche graviert wurden. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus ein beliebtes spezielles Sammelgebiet. Passionierte Amateure horten als Resultat ihrer Touren eine stetig wachsende Zahl in Mappen aufbewahrter oder gerahmter Blätter.
Die "monumental brasses" stammen größtenteils aus dem Hochmittelalter, sie sind sehr häufig in England und Wales, aber nur vereinzelt in Schottland zu finden. Doch ihr Ursprung liegt im flämischen Raum, in Gent wurden solche Platten schon gegen Ende des 13. Jahrhunderts graviert. Das Rohmaterial hatte bereits einen langen Weg hinter sich, ehe es als Legierung in den Bestimmungsorten eintraf: Kupfer aus Bergwerken des Harz und Zinkerz aus der Gegend bei Aachen, in flachen Steintrögen von Kölner Schmelzen zu dünnen Metallflächen gegossen.
Als in England noch kein Messing erzeugt wurde, erfolgte die Einfuhr der Platten, ob glatt oder bereits bearbeitet, aus diesen Gebieten des Kontinents.
Aber bald entstanden eigene Gravierwerkstätten in London und in den Küstenstädten, also nahe den Ankerplätzen der Frachtschiffe. Für die bildliche Gestaltung war die frontal stehend oder liegend dargestellte Figur die Norm, auf exakte Porträtähnlichkeit kam es nicht an, auch entspricht in vielen Fällen die Kleidung der Männer nicht dem Stil des Sterbejahres, sondern jenem früherer Zeiten. Denn nach dem Tod der Ehefrau ließ zumeist der Witwer auch eine Grabplatte für sich selbst anfertigen. Sogar dann, wenn er darauf hoffen durfte, die Verblichene noch lange zu überleben.
Man hielt auf genaue Wiedergabe des Gewandes, nur war es eben bis zur Bestattung des Bestellers bereits "altmodisch" geworden. Gerade dieser dokumentarische Wert der Grabplatten aber verleiht ihnen kulturgeschichtliche Bedeutung. Da ist in der Zeichnung der Graveure das authentische Erscheinungsbild bis in die Einzelheiten der Ausschmückung und des Beiwerks überliefert. Solche Wirklichkeitstreue war einer der Hauptgründe für die Forschungen über die "monumental brasses". Sie zeigen ausnahmslos höheren Klerus und weltliche Würdenträger, denn das waren die einstigen Auftraggeber.
Den Großteil machen die sogenannten "military brasses" aus, Darstellungen ritterlich wehrhafter Herren. Diese Figuren geben Aufschluß über die gesamte Entwicklung des englischen Harnisches, vom Stand der Zeit um 1300, mit Kettenpanzer und textilem Überkleid, bis zur Plattnerei aus der Epoche der Königin Elisabeth I., ja die britische Harnischkunde basiert sogar weitgehend auf dem gründlichen Studium solcher Bildquellen. Eng damit verbunden ist das heraldische Element, sei es auf der Schutzwaffe, dem Schild, oder als beigefügtes Wappen.
Einer der ersten namentlich bekannten Sammler von "brass & rubbings", der Antiquar Craven Ord, wandte um 1790 Methoden an, die später kein anglikanischer Pfarrer in seiner Kirche geduldet hätte. Mr. Ord rieb zunächst die gesamte Messingplatte mit Druckerschwärze ein, polierte dann die Flächen wieder blank, sodaß die Farbe nur in den Vertiefungen der Gravur haften blieb, legte einen befeuchteten Bogen sehr saugfähigen Papiers darauf, bereitete eine Decke darüber und fungierte im Stampfschritt mit ganzem Körpergewicht als seine eigene Presse.
Der einzigartige Fall, daß ein Mann das Objekt seines liebevollen Interesses wahrhaftig mit Füßen trat! Seine Abdrucke, nun im Besitz des British Museum, zeigen die Figuren zwar seitenverkehrt, aber durch die unverdrossene Trampelei des Altertümerkenners sind auch zumindest die Abbilder vieler inzwischen spurlos verschwundener Grabplatten erhalten.
Etwa um 1830 kam die jetzt noch übliche Prozedur des seitengerechten Pausens auf, als Medium diente vorerst gewöhnliches schwarzes Schusterwachs, in kleinen Scheiben oder Blöcken zu haben und leicht zu verwenden. Damit konnte man auf dem über der Grabplatte fixierten Bogen ein Negativbild erzeugen, in dem die Gravur als weißes Lineament sichtbar wurde.
Eine eigene Sammlerorganisation, die "Monumental brass society" befaßt sich nicht bloß mit historischen und sachlichen Fragen, sondern auch mit praktischen Belangen wie der Produktion der am besten tauglichen Wachsstifte, Papiersorten und Klebebänder. Um außer Schwarzpausen auch andere kontrastreiche Variationen zu ermöglichen, bringt die einschlägige Industrie die Stifte und das Papier in verschiedenen Farben in den Handel, von dunklen Tönungen über Ziegelrot bis zu Gold und Silber.
Umstritten ist freilich die Technik, in Goldfarbe hergestellte Pausen durch Spezialbehandlung auf Hochglanz zu bringen und so in der Wirkung den Originalen anzunähern. Immerhin: Messing ist Messing, aber Papier bleibt Papier.
Im gotischen Kreuzgang der Westminster-Abtei, in der Kirche zu St. James und anderswo in London wurde das "brass rubbing" sogar zur Touristenattraktion stilisiert. Gegen eine erschwingliche Gebühr erhält der Besucher einen Bogen, einen Wachsstift (diesen nur leihweise!) und kurze Erläuterungen des Vorgangs. Dann kann er aus einem Sortiment verkleinerter Messingreproduktionen der berühmtesten und künstlerisch bedeutendsten Grabplatten wählen und selbst zu pausen beginnen. Die Wachsschicht haftet so fest auf dem Papier, daß sie im Reisegepäck auch einen längeren, strapaziösen Transport unbeschädigt übersteht.
Die Erfahrung lehrte, daß sich die meisten Adepten für einen der so dekorativen Ritter entscheiden. Deshalb der verlockende Werbeslogan "Take Home a Knight".
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